RE: Im Morgengrauen
“Die Möglichkeit besteht immer. Ich würde aber keine allzu großen Hoffnungen hegen“, meinte ich reichlich trocken, während ich weiter mein Pferd suchte. Hier im Wald war die Spur zwar leichter zu sehen – abgeknickte Zweige und Pferdehaar überall – aber das Vorankommen war mit dem Unterholz schwieriger. Warum rannte mein blöder Gaul in den Wald? Das war nicht sein natürlicher Lebensraum, zu schnell brachen die Tiere sich die Beine und waren dann Wolfsfutter.
Während wir uns durch die Büsche, Wurzeln und das Unterholz schlugen, fing Ceridwen dann auch an, zu erzählen. Sie war Priesterin auf Mona gewesen und auch vergewaltigt worden. Soweit, so unspektakulär für mich. Falls sie deshalb Mitleid suchte, war ich der falsche Ansprechpartner. Ich war der Überzeugung, dass dieser Tag einen Sinn gehabt hatte, auch wenn der bislang nur darin bestanden hatte, dass ich gezeugt worden war. Die anderen Falken haderten damit, aus einer Vergewaltigung zu stammen. Mir war das vollkommen gleichgültig, ob Mairead den Mann, der mich gezeugt hatte, gewollt hatte oder nicht. Es war von den Göttern bestimmt worden, dass er mich zeugen sollte, und fertig.
Dann aber meinte sie, sie hätte einen Sohn zur Welt gebracht. Das ließ mich doch abrupt stehenbleiben und sie intensiv ansehen. Sie hatte einen weiteren Falken auf die Welt gebracht? Und sie lebte noch? Und sie erzählte es mir?! Obwohl sie wissen musste, dass die Druiden beschlossen hatten, dass die Frauen, die Kinder bekommen hatten, sich selbst zu töten hatten und die Söhne an Cathbad übergeben werden mussten? Obwohl sie wusste, dass das ihr Leben jederzeit und völlig rechtmäßig beenden könnte, weil jeder von uns sie einfach so umbringen dürfte, auf Urteil der Druiden? Und trotzdem erzählte sie es mir?
Ich schaute sie sehr forschend an, ob es ihr herausgerutscht war, ob sie unter einem Zauber stand oder ob sie dumm war. Aber nein. Nichts davon.
Ein wenig Licht brach durch das Blätterdach, und für einen Augenblick warf es helle Lichtmuster über uns und das viele Grün, das hier überall wuchs. Ich sah Huflattich und Salbei, Misteln in den Bäumen, Ginster und leuchtenden Fuchsschuh, und noch hunderte Pflanzen mehr, alles gleichzeitig. Aber vor allen Dingen sah ich die Linien, die Welt hinter der Welt, die Anderswelt, die Verbindungen und Muster. Und das, was mich so sehr gereizt hatte wie ein Juckreiz hinter meinen Augen, klarte etwas auf.
Und ich musste lachen. Sehr laut und heftig.
“Du hast dich also den Druiden widersetzt und bist abgehauen? Und hast Cathbad um nicht nur ein Leben betrogen, sondern zwei?“ Oh, das war zu lustig. Viel zu lustig. Ich musste wieder prustend lachen. Die meisten Menschen verstanden den Witz vermutlich nicht und würden sich vor dem Zorn der Götter oder zumindest dem der Druiden fürchten. Aber die meisten Menschen waren schrecklich blind und dumm obendrein. “Und er weiß das? Und er weiß, dass du hier bist?“
Ich lachte noch ein wenig mehr. “Jetzt weiß ich, warum die Götter nicht wollten, dass ich dich töte. Das hier ist viel zu lustig.“
Ich schüttelte mich und ging weiter. Jetzt war meine Laune schon sehr viel besser als noch zuvor. Das war wirklich zu lustig. Ein weiterer Falke, entkommen, frei fliegend. Nicht nur ein Mädchen, das Cathbad uns vorenthalten und später eingeschmuggelt hatte, sondern auch ein Junge… Moment. Ich blieb noch einmal stehen und lachte noch mehr, als mir noch mehr klar wurde. Cathbad hatte Raven verschont, weil Ceridwen mit ihrem Kind abgehauen war. Weil dann seine Rechnung nicht mehr stimmte. Weil er um ein Leben betrogen worden war und es ausgleichen musste. Raven hätte eigentlich sterben sollen, wie alle Mädchen, aber Cathbad brauchte einen Ersatz für Ceridwens Sohn! Es war so dermaßen offensichtlich, dass ich mich selber fragte, wieso ich nicht von selbst darauf gekommen war.
Ich grinste von einem Ohr zum anderen, als ich weiter ging. “Und dein Sohn ist auch in Cheddar? Wie heißt er?“ Ja, ich war neugierig. Wahrscheinlich würde Cathbad, sollte er davon erfahren, wollen, dass Cinead ihn und auch Ceridwen umbrachte, aber das ging mich nichts an. Ich sah mich schon lange nicht mehr an Cathbad gebunden. Er glaubte zwar, zu sehen, aber er sah nicht wirklich. Er sah nur das, was er sehen wollte, was ihm gefiel, nicht das, was die Götter wirklich vorhatten.
Falke
|