Pytheas glaubte, den Hinweis des Heilers zu verstehen: Er wusste immer noch zu wenig darüber, wie die Organe zusammen wirkten. Ein Metzger wusste wahrhaftig mehr. Die
Viersäftelehre, die gängige Lehrmeinung war, half ihm bei der Erforschung der Bleikrankheit nicht weiter. Es waren nicht die Säfte, die im Ungleichgewicht waren. Soweit er Pally verstand, attackierte das Blei direkt innere Organe. Das hieß für den Medicus, er musste einen Verstorbenen oder nein, viel besser,
mehrere Verstorbene öffnen, um die Gemeinsamkeit der Veränderung zu finden.
Und zum Vergleich einen Gesunden...nein, korrigierte sich Pytheas in Gedanken: Jemanden, der nicht an Bleikrankheit verstorben war.
Normalerweise wahrten die Römer die Integrität von Toten, selbst wenn sie Sklaven gewesen waren. Der Medicus würde also den Ritter Balventius um Erlaubnis fragen, die Leichen von Minenarbeitern obduzieren zu dürfen.
Heiler Pally hatte ihm einen wichtigen Anstoß gegeben.
"Ich werde versuchen, kein Wort von dem, was Du mich heute gelehrt hast, zu vergessen“ , erwiderte der Medicus und nahm das kleine Tongefäß mit der Säure an sich, um es zu verwahren. Doch noch bevor er fragen konnte, wie und ob sich in Zukunft
Pally kontaktieren ließ, war der Kelte auch schon gegangen. Pytheas sagte sich, dass Louarn es wissen würde. Schließlich hatte Louarn den Heiler herbeigeholt.
"Habe ich mich schon richtig bedankt bei Dir, Louarn?“, fragte er seinen Türwächter:
"Hättest du den Tribun nicht vertrieben, wäre es für mich schlecht ausgegangen. Wenn ich etwas für dich tun kann, lasse es mich bitte wissen"
Pytheas fühlte sich immer noch etwas wacklig, aber dann strich ihm Atreus übers Haar, und er schloss einen Moment lang die Augen. Diese kleine Geste war so lieb und vertraut:
"Es ist schön, dass du hier bist"
Ihm hätte die Nähe genügt, aber der Junge fragte, ob er ihm einen Tee machen sollte. Pytheas, der solche Fürsorglichkeit nie kennen gelernt hatte, begriff, dass Atreus jetzt für ihn sorgen wollte. Er nickte:
"Ein Kräutertee wäre eine exzellente Idee. Wasser ist im Krug und die Flamme der Öllampe lässt sich höher stellen"
Die Praxis hatte keinen Herd, wie auch in den Mietshäusern in Rom war wegen der dauernden Feuergefahr Kochen verboten.
Pytheas winkte dann Louarn näher:
"Erinnerst du dich daran, als ich dir einmal sagte, dass ich Geld im Hause hätte, aber dass dieses Geld sich selbst bewacht?“, fragte er Louarn und fuhr fort, ohne seine Antwort abzuwarten:
"Falls mir irgendwann… etwas zustößt, ist es wichtig, dass alle Münzen, die im Haus sind, in einer Schüssel mit Wasser gewaschen werden. Aber nicht mit den Händen, sondern mit einem Stecken oder ähnlichem. Sie sind vergiftet. Das Waschwasser gießt du in den Garten zu den Giftpflanzen. Lykopheia darf es keinesfalls trinken. Das meiste Geld gehört dem Kaiser, und es geht an ihn zurück, doch ein Teil gehört auch mir persönlich. Ich habe über Jahre gespart. Diese Ersparnisse sind in einem weißen Leinensäckchen. Es handelt sich um insgesamt hundert Goldmünzen. Sollte ich also nicht dazu kommen, so nimm bitte fünf für dich, fünf für Peggi, gib sieben Wicho und den Rest von L XXX III an Atreus“
Es war eine beachtliche Summe. Atreus könnte damit hingehen, wo immer er hinwollte. Pytheas vertraute den Anwesenden, und daher vertraute er ihnen auch seine Geheimnisse an. Es war mehr als das, er fühlte für sie einen Grad der Zuneigung, den er in Rom seit
Persephones Tod für niemanden mehr gefühlt hatte. Dort auf dem Palatin basierten die meisten menschlichen Beziehungen auf Gefallen und Gegengefallen.
Der rothaarige Kelte und sein Freund Atreus aber, sie waren einfach hier, um ihm beizustehen, obwohl er ihnen nichts gegeben hatte und sie nichts von ihm erwarteten. Obwohl er nichts über ihre Vergangenheit wusste. Doch ihre Gegenwart war erfüllt von Freundschaft. Ohne zu fragen, retteten sie sein Leben. Selbst der
Drui….der Heiler – Pytheas vermied es das fatale Wort, das ihm auf der Zunge lag, auch nur zu denken, denn was er nicht wusste, konnte man auch unter Folter nicht aus ihm heraus bekommen – hatte nur sehr wenig für seine Hilfe und Weisheit bekommen.
Pytheas tastete nach Atreus Hand. Er würde später Wicho in die Praxis im Thorianum schicken, um die wartenden Patienten zu behandeln. Er selbst war nach der großen Anspannung, die jetzt erst durch Atreus Gegenwart von ihm abfiel, erschöpft.
"Lass uns danach nach Hause gehen“, bat er.
Dann fiel ihm Centurio Octavius wieder ein. Es war noch nicht zu Ende. Das war es nie. Auch der Centurio war durch Tribun Ovidius in Gefahr:
" Wie bekomme ich am schnellsten eine anonyme Nachricht an jemanden in die Castra?", fragte er.