RE: Sonne & Stern
Da hob die junge Frau den Kopf und sah mich an. Ich blickte in Augen von einem ungewöhnlichen Blau, es war tief und wurde durch das nachtschwarze Haar, welches ihr in sanften Wellen um das Gesicht fiel, noch verstärkt. Ich lächelte ganz leicht und hob die Hand wie zum Gruß. Es war mir, als würde ich sie wieder erkennen, obgleich ich sie nie in meinem Leben zuvor gesehen hatte.
Sie setzte ihren Weg fort, und ich blieb wie verzaubert stehen und sah ihr nach. Dann brachte ich den leeren Becher an den Stand zurück und wollte gerade wieder zurück in das Weiße Pferd gehen, als ich von weiter weg einen Schrei hörte:
DER BULLE IST LOS!
Schon kamen mir zwei, drei Leute mit angstverzerrten Gesichtern entgegen, und dann geriet die Menge in Bewegung. Es war keine Panik, aber die Leute wollten sich in Sicherheit bringen.
Und dann sah ich zwei schreiende junge Sklaven, die mir bekannt vorkamen: Es waren die Frau und der Junge von vorhin, die noch soeben zufrieden ihre Hähnchenschenkel verzehrt hatten.
Wo war ihre Herrin?
Ich wollte nach ihr fragen, doch da entdeckte ich SIE schon: Die junge Frau mit dem mitternachtsschwarzen Haar und den blauen Augen stand mutterseelenallein zwischen zwei Gattern, die anderen Marktbesucher waren zurückgewichen und hielten sicheren Abstand.
Weshalb war sehr klar - in direkter Linie versperrte der wütende Stier ihr den Weg.
Ich erinnerte mich noch gut an seine Wut und wie er nach den Viehtreibern gestoßen hatte. Das war kein Stier, der für die Nachwuchszeugung von Milchkühen gehalten wurde. Das war ein Ur, ein schwarzes Ungetüm, fast sechs Fuß hoch, mit weitreichenden, nach Innen gekrümmten Hörnern. Aus irgendeinem Grunde war er frei. Vielleicht hatte ihn jemand kaufen wollen, und man hatte ihm eine Kette gelöst, und die zweite hatte er selbst zerbrochen.
Die junge Frau wich ganz langsam zurück. Das Tier wiegte den riesigen Kopf hin und her. Wenn es ihn senkte, würde es angreifen.
Ich hatte genug gesehen. Mit fliegender Hast nahm ich mein Seil von der Schulter, knüpfte an sein Ende einen Knoten und legte eine Schlaufe auf die Art an, wie wir zuhause Pferde einfingen.
Ich wusste, dass ich nicht die Kraft hatte, den Bullen zu kontrollieren, wenn ich ihn am Hals erwischen würde. Ich musste das Lasso um seine Vorderfüße wickeln und ihn so zu Fall bringen.
Ich war allerdings nur zu Fuß und nicht zu Pferd, so dass ich das Tier dazu bringen musste, auf mich loszugehen und dabei eine Klaue vom Boden zu heben. Dann hatte ich nur einen Versuch, der nicht schief gehen durfte.
Ich warf einen kurzen Blick auf die Sklaven, die Ochsenstachel trugen, aber nicht näher kommen wollten. Das hielt ich für vernünftig, denn das Zufügen von Schmerzen hätte den großen Stier vermutlich eher noch wütender gemacht. Ich rief ihnen zu:
"He ihr da, bringt Ochsen herbei!", ich hoffte, dass sie verstanden was ich meinte. Normalerweise gab man Bullen Ochsen mit als Begleiter, die kastrierten Tiere mit ihrer fügsamen Wesensart besänftigten sie.
Dann schwang ich mich auf das Gatter und lief auf ihm entlang, bis ich zwischen Bulle und Frau zu stehen kam. Ich drehte mich zu ihr um. Sie lag da und rührte sich nicht, und mein Herz zog sich zusammen vor Sorge. Ich hoffte, dass sie sich nur erschrocken hatte, jedoch unverletzt geblieben war
Ich hörte den Jungen rufen: "Domina Stella!"
Stella war also ihr Name....
Ich konnte nicht nach ihr sehen, so gerne ich das getan hatte. Ich hoffte, ihre Sklaven würden sich um sie kümmern. Ich musste erst der Gefahr Herr werden.
Ich wedelte mit den Armen: "Heda Großer, lass dich mit jemandem ein, der dir gewachsen ist!", rief ich und nahm mein Seil in beide Hände. Ich wirbelte die Schlaufe gleichmäßig und geübt über meinen Kopf.
Sofort richtete der Stier seine Aufmerksamkeit auf mich. Er schnaubte vor Wut und senkte sein schweres Haupt mit der breiten Stirnplatte und den langen Hörnern. Dann stürmte er auf mich los.
Ich blieb stehen, als sei ich aus Stein. Nur die Schlaufe über meinem Kopf, bewegt durch meine Hände, kreiste als hätte sie ein Eigenleben.
Nun war mein Gegner nahe und ich sah direkt in seine kleinen roten bösartigen Äuglein.
Mein Lasso flog, die Schlinge wickelte sich um die Vorderbeine meines Angreifers, zog sich zusammen und brachte ihn abrupt zu Fall.
Staub wirbelte auf, und das riesige Tier ächzte und strampelte und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Ich rannte darauf zu, zog die Schlinge fester, kniete mich hinter seinen Kopf, damit es mich nicht stoßen konnte und schlang beide Arme um den borstigen Schulterbuckel mit dem hellen Aalstrich.
Ich tat nichts als den Stier festzuhalten. Die Adern an meinen Armmuskeln traten heraus ,und ich spürte jetzt, wie mir Schweiß langsam von meinem Stirnansatz über das Gesicht tropfte, doch ließ ich nicht los. Der Stier schnaubte und keuchte, und ich tat es auch.
Erst nach einer gefühlten Ewigkeit wurde er ruhiger. Ich schaute hoch, und die Viehtreiber verstanden den Wink und brachten zwei Ochsen herbei, die in der Nähe stehen blieben, damit der schwarze Bulle sie riechen konnte.
Erst als der Stier wieder an seinem Nasenring gekettet war, erhob ich mich und schnitt das Seil durch, um seine Beine zu befreien.
Mein Bulle erhob sich, und ging mit den Ochsen mit. Ein wenig geknickt wirkte er, als könne er es nicht glauben, was gerade geschehen war.
Ich wischte mir mit dem Unterarm Schweiß und Dreck aus dem Gesicht. Wenn einer gerade eine Therme nötig hatte, war ich es.
Ich ging zu Stella hin und in die Hocke. Sie hielt die Augen geschlossen, ihre Augenlider waren schimmernd wie Milch, und ihre langen Wimpern beschatteten ihre Wangen.
Ihre Sklavin hatte ihr etwas unter den Kopf geschoben, und der Junge hatte einen Becher Posca geholt, ein Tuch mit der Flüssigkeit getränkt und wischte den Tränen nahe über ihre Handgelenke:
"Stella", sagte ich nur, und ich sprach den Namen aus, den ich noch so viele Male aussprechen würde: Stella, Stern:
"Es ist vorbei. Bitte... wach auf"
|