RE: Das Tablinum
Varro wehrte sich gegen das aufkeimende Gefühl des Ekels, das die Erzählung von Flavianus in ihm hervorrief. Doch er hörte zu. Menschliches Elend war ihm nicht fremd. Und Elend, das vor aller Augen in den Marmorhallen Roms stattfand, schien das reinste von allen zu sein.
Als Flavianus geendet hatte, stellte der Ritter den Becher ab und richtete sich auf, bis er saß.
„Ich verstehe“, sagte er zunächst und suchte nach Worten, die beschrieben, wie er über die Sache dachte. „Mach dir keine Sorgen, meine ‚Unterhaltung‘ kann auch mal Pause machen. Ich gebe zu, mir war ja klar, wie es in den kaiserlichen Kammern so zugehen muss, und doch kann einen immer noch etwas überraschen. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt derart angewidert wurde.“ Und das wollte etwas heißen, immerhin sah man in so einer Mine so einiges und Varro hatte bereits mehr Mörder, Vergewaltiger und Räuber gesehen als die meisten anderen. Und die meisten starben noch elendiger als sie gelebt hatten.
Varro war kein Kind von Traurigkeit. Wenngleich er immer eine Aversion gegen ausschweifende und prunkvolle Feiern gehabt hatte – er mochte es lieber praktisch und weniger exzessiv -, hatte er sich seinen Spaß immer geholt, wann immer er Lust hatte. Doch der Gedanke an Kinder, der war nun doch in keiner Weise reizvoll für ihn.
„Es ist erstaunlich“, begann er gedehnt, „welche Türen einem geöffnet werden können. Und ebenso, wie hoch der Preis sein kann für das Öffnen dieser Türen. Die Vergangenheit formt uns unwiderruflich und manchmal fragt man sich ‚war es das wert?‘. Es… tut mir leid, das zu hören. Umso besser doch, dass uns hier, weit fern von daheim, ein neuer Anfang ermöglicht wird.“
Varro ließ offen, ob er mit seinen Worten Flavianus oder sich selbst meinte. Doch auf fremden Wunden herumzureiten, war nicht sein Ding.
„Nun… der Gedanke an Kinder in meinem Bett hat mich noch nie gereizt. Möglicherweise bin ich nicht unsicher genug, um mir so kleine Gestalten zu holen. Der neunjährige Flavianus interessiert mich daher nur wenig.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Ganz im Gegensatz zum erwachsenen Flavianus, der mich mehr als interessiert.“
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