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Normale Version: Das Tablinum
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Balventius Varros Empfangszimmer. Es ist einer der wenigen Orte der Casa, in denen der Balventier seinen Wohlstand zur Schau stellt, denn immerhin hat er beinahe täglich wichtige Besucher aus der Stadt und von Ferne zu Besuch - sofern er nicht in der Mine oder auf seinem Landgut weilt.
Der Arbeitstisch mit all seinen Rollen dient meist nur dazu, wichtig auszusehen. Wenn sich Varros favorisierter Sklave Flavian hier aufhält - und nicht an seinem Arbeitsplatz in der Mine - so geht er hier seinen Tätigkeiten nach. Varro selbst nutzt diesen Platz selten.
Einige Tagesliegen mit Beistelltischen finden sich hier, mal mehr, mal minder gepolstert für jene, die es gern bequemer haben. Farblich dominieren Rot- und Goldtöne an den Wänden und durch die Fenster wird selbstverständlich ein herrlicher Ausblick in den Garten gewährleistet.
Varro ärgerte sich schon ein wenig. Der Tag war bereits vorangeschritten und der Medicus hatte sich noch nicht blicken lassen. Er mochte Unpünktlichkeit nicht. Der Kerl mochte ja vom Kaiser persönlich geschickt worden sein, doch er vergaß wohl ein wenig seine Stellung. Und die Tatsache, dass der Kaiser weit weg war.
Umso überraschter war er, als die Tür sich öffnete und sich eben jener Gast endlich einstellte. Varros Zorn verrauchte schlagartig, wenngleich sein Gesicht die angeborene Hochmütigkeit nicht losließ.
"Du bist hier", sagte er bloß und deutete auf den Platz vor seinem Arbeitstisch.
Er selbst benutzte den Tisch so gut wie nie, doch er wollte das Gespräch zumindest mit einem dienstlichen Anstrich beginnen. Daher setzte auch er sich nun.
"Was gibt es zu berichten?"
"Ich danke dir, Ianitor", hatte Pytheas zu dem Türwächter gesagt, bevor er ihm bis in das Tablinum gefolgt war. Die ganze Villa war gediegen und repräsentierte die Würde des , doch dieser Raum war besonders repräsentativ in Rot- und Goldtönen gehalten. Gleichzeitig war die Einrichtung durch die vorhandenen gepolsterten Klinen auch bequem und einladend. Es war schön hier, dachte Flavianus Pytheas.

Balventius Varro saß hinter seinem Schreibtisch. Pytheas wusste selbst nicht, warum er im Angesicht dieses Mannes wieder einmal Schüchternheit verspürte; der Ritter hatte etwas Hochfahrendes, Arrogantes, fand er; vielleicht lag der Grund darin, dass er Herr über so viel Leben und so viel Tod war, vielleicht war es aber auch etwas anderes, was der Medicus noch nicht so recht analysiert hatte.

Du bist hier, sagte der Minenpächter nur. 

"Salve Eques Balventius Varro", grüßte Pytheas mit einer kleinen Verneigung und nahm sofort Platz, als sein Gegenüber auf einen Stuhl deutete.

Er holte einen ganzen Stapel Wachstafeln aus seinem Beutel. Pytheas hätte das, was darauf stand, auch aus dem Kopf referieren können, aber die Dinge in seinen Händen gaben ihm Sicherheit; er konnte auf die tabulae schauen und musste den Blick nicht erheben, wenn er nicht wollte. Er war sich aber nur zu gut bewusst, dass Varros Blick auf ihm lasten würde.

"Der Bericht... also nun. Ich habe mir dreißig Minensklaven kommen lassen und durch Los fünf Gruppen gebildet. Vier Gruppen wurden auf verschiedene Weise behandelt, die fünfte bekam außer gutem Essen und sich Ausruhen keinerlei Behandlung und diente somit als Kontrollgruppe. Alle Männer zeigten Anzeichen der Bleikrankheit, aber sie war nicht so weit fortgeschritten wie bei den Moribunden", erklärte er und während er sprach, wurde seine Stimme sicherer und er ließ die Tafel sinken:

"Möchtest du die einzelnen Behandlungen erfahren oder soll ich nur zum Ergebnis kommen?", fragte er und schaute auf.
Gott, wie sein Blick an dem Jungen hing. Varro vergaß immerzu, dass Phyteas ebenso alt war wie er, doch hatte er sich eine Jugendlichkeit bewahrt, die den Vergleich mit jenen makellosen griechischen Statuen nicht zu scheuen brauchte. Wer immer dieses Prachtexemplar freigelassen hatte, war ein Narr. Und welch Verschwendung, bei solch Schönheit, eine solche Tätigkeit anzunehmen, wenn man das Denken offensichtlich nicht nötig hatte.
Varro hielt die professionelle Fassade nur mit Mühe aufrecht. Er wollte zu gern zu einem inoffiziellen Teil des Tages übergehen. Daher handelte er jetzt vielleicht etwas gegen seine Natur:
"Normalerweise bin ich ein Freund davon, Vorgänge zu verstehen. Ich bin der Meinung, dass man sich in meiner Stellung auskennen sollte. Doch fasse dich für heute kurz und teile mir das Ergebnis mit. Die ausführliche Fassung möchte ich bis nächste Woche verschriftlicht haben."
Dann konnte er sie sich wenigstens in Ruhe ansehen, ohne sich den Mann vor sich dauernd nackt vorzustellen, wie es sich für ihn gehörte. Götter, warum konnte er ihm nicht gehören wie ein Sklave?
"Also gut, ich bin für jedes Ergebnis gewappnet, solang wie sie nicht allesamt notschlachten müssen."
Pytheas spürte den Blick von Balventius, und ihm schoss das Blut etwas in die Wangen. Es war nicht so, dass er diese Art von Blick nicht kannte. Aber früher hätte man ihn herbeigewinkt, und er wäre natürlich zu Diensten gewesen.  Jetzt war er ein freier Mann, und seinem Patron gefielen ausschließlich Frauen. Flavianus Pytheas hatte was Beziehungen betraf, Entscheidungsfreiheit – und diese Freiheit überforderte ihn. Er flüchtete sich wie meist in Sachlichkeit:

„Ich habe den Bericht bereits schriftlich verfasst, Eques Balventius Varro“, antwortete Pytheas und schob vier seiner Wachstafeln zu einem Stapel in die Mitte:
"Die jetzigen dreißig Probanden sind wieder so hergestellt, dass sie den Rest ihrer Strafe in den Minen ableisten können. Getötet müssen sie nicht werden. Bis auf zwei, die verstarben, und die ich aufgeschnitten habe. Sie zeigten die typische Schrumpfung von Leber und Nieren"

Pytheas hatte schlanke Finger, gut geeignet, um Wunden zu vernähen und mit einer Pinzette zu arbeiten.  Sie täuschten über seine durchaus vorhandene körperliche Kraft hinweg. Diese Finger trommelten nun leicht nervös auf dem Tisch, dann bemerkte er es selbst und verschränkte sie:
„Dennoch sind meine Resultate nicht gut. Die Pause, das Ausschlafen, die gute Verpflegung , haben den Zustand  der meisten Männer verbessert. Aber die verschiedenen  Behandlungen haben nichts bewirkt. Ich hatte eine Kontrollgruppe ohne jegliche Behandlung, und der geht es genau so gut  oder schlecht. wie allen anderen, die ich behandelt habe. Keines der bisher angedachten Helmittel kann die Bleikrankheit heilen, wenn sie schon einmal den Körper befallen hat“,
Er rieb sich die Stirn:
„Die jetzige Fragestellung ist, ob man verhindern könnte, dass die Bleikrankheit überhaupt ausbricht.
Ich bräuchte also noch einmal dreißig Männer. Möglichst unverbraucht, noch nicht krank. Am besten ganz frische Sklaven, die genug Latein verstehen, um zu tun, was ich ihnen auftrage. Dann werden wir sehen, ob ich sie schützen kann"

Pytheas wirkte niedergeschlagen. Ich würde Varro so gerne helfen, dachte er, und dann fiel ihm auf, dass er "Varro" gedacht hatte und nicht "Eques Balventius", und das verwirrte ihn noch mehr.
Das waren natürlich alles keine besonders guten Nachrichten. Varro war insgeheim ein wenig enttäuscht, dass es kein Wundermittel gegen die Krankheit gab.
"Schön, das ist natürlich ein Rückschlag. Aber eine Prävention wird auf lange Sicht ebenso gut sein, wenn du eine finden solltest. In der Zwischenzeit sollten wir wohl versuchen, neue Tunnel zu eröffnen. Vielleicht gelingt es uns, Silbervorkommen ohne Bleizusatz freizulegen. Es ist... keine schöne Situation, für niemanden von uns. Aber... ich bin zuversichtlich, dass deine Forschungen sich auszahlen. Sonst hätte der Kaiser dich nicht geschickt."
Varro seufzte und erhob sich langsam. Anstatt jedoch den Gast zum Gehen aufzufordern und das Treffen zu beenden, deutete er auf die Liegen im hinteren Teil des Raums.
"Kommen wir zu einem angenehmeren Teil des Abends. Ich will Neuigkeiten aus der Hauptstadt hören, dazu kamen wir bisher noch nicht. Ich lasse uns Wein kommen."
„Wenn es gelänge, wäre der Kaiser äußerst angetan. Rom kann nicht ständig Kriege führen, nur um immer wieder Arbeiter zu ersetzen. Militärische Unternehmungen sind kostspielig“, sagte Pytheas, der sie außer für teuer auch für eine Verschwendung menschlichen Lebens hielt. Männer schlugen sich gegenseitig Wunden, die die Ärzte dann wieder zu flicken hatten:
„Ich arbeite Tag und Nacht an dem Problem, das kannst du mir glauben, edler Balventius Varro. Soll ich die dreißig selbst aussuchen oder übernimmst du das?"

Nun schien der Ritter zugänglicher, fast freundlicher, und deutete auf die beiden Klinen. Pytheas erhob sich und schenkte seinem Gastgeber ein schüchternes Lächeln:
„Neuigkeiten welcher Art interessieren Dich? Zu Wagenrennen und in den Circus bin ich leider nie gekommen. Der Kaiser baut gerade das größte Amphitheater der Welt, und der Bau wird in drei Jahren beendet sein. Vom Goldenen Haus, dem alten Palast von Nero, ist kaum mehr mehr zu sehen, das wurde beinahe komplett abgerissen. Als Kind habe ich da noch gedient; er war so groß wie eine eigene Stadt in der Stadt“
    In Pytheas Gesicht trat ein undefinierbarer Ausdruck, die Erinnerungen an diese Zeit waren nicht die angenehmsten, aber dann zuckte er die Schultern. Er blieb stehen und wartete, welche der beiden Klinen für ihn bestimmt wäre. Er sah sich nicht als Gast, der automatisch den besten Platz bekam:
„ Caesar Vespasianus Augustus selbst  steht nur auf Frauen und war seiner jeweiligen Frau immer treu. Es gibt also im Gegensatz zu seinen Vorgängern wenig Skandalöses. Du weißt wie das ist: Die gute Gesellschaft passt sich ja meist ihrem Herrscher an. 
Für mich bitte nur ein Zehntel Wein und neun Teile Wasser, ich vertrage ihn überhaupt nicht“
Ein Zehntel Wein, was für eine Verschwendung. Aber Balventius wollte sich nicht nachsagen lassen, er sei ein schlechter Gastgeber. Der Medicus bekam sein Gesöff und durfte auf der Liege Platz nehmen, die übrig war. Qualitativ gab es da keine Unterschiede, Balventius musste nicht damit angeben, dass seine Liege als einzige vergoldet war oder sowas...
"Nun, das klingt ja beinahe, als sei der Kaiserhof integer. Das klingt so völlig anders, als was die Leute sonst so erzählen, oder? Aber hier draußen sind wir ohnehin zu weit ab vom Schuss, als das man aus skandalösen Geschichten Vorteile ziehen könnte, also sei es dem Kaiser gegönnt, einmal nicht stets im Mittelpunkt der Gerüchte zu stehen.
Die zuständige Sklavin brachte ihnen den Wein, beziehungsweise die Suppe für Flavianus und verzog sich dann wieder, um die Herren ihre Geschäfte besprechen zu lassen. Balventius hieß den Medicus noch, sich die Probanden für seine Experimente selbst auszusuchen und schloss das Thema für den heutigen Tag ab. Er musste sich noch viel überlegen, heute jedoch hatte er keine Lust dazu.
"Ich muss gestehen, es fällt mir schwer zu glauben. Es muss furchtbar langweilig sein, sich nicht einfach mal betrinken zu können. Bei den meisten Anlässen ist das die einzig versöhnliche Eigenschaft des Abends", erlaubte er sich schließlich den Witz. Er lotete Flavianus' Willen und Fähigkeit zum Smalltalk aus.
Pytheas lächelte auch; es war sein in sich gekehrtes Lächeln. Er wusste erst nicht, wie er die Sache mit der Trunkenheit einem römischen Ritter erklären sollte, der sich bestimmt nichts davon vorstellen konnte. Und wenn: Würde es ihn interessieren? Flavianus Pyheas schämte sich nicht für das, was oder wer er gewesen war. Schicksal war Schicksal. Aber so oft begegnete er Gedankenlosigkeit, was Sklaven anging. Gedankenlosigkeit war mehr verbreitet als gezielte Grausamkeit, die es in manchen Fällen gewiss auch gab, doch Gedankenlosigkeit war das verbreitetere Übel. Er beschloss, die schlichte Wahrheit zu erzählen:

"Ich war als Kind Mundschenk im Kaiserpalast", er trank einen Schluck von seinem Beinahe - Wasser:

 "Wenn dort ein großes Gelage stattfand, da gab es nicht nur ein Triclinium, sondern gleich acht oder neun davon, und überall liefen kleine Jungen als Ganymed, verkleidet herum, um den Gästen einzuschenken. Jungen wie ich. Es fing an damit, dass die älteren Jungen einem einen Becher Wein gaben, weil man Angst vor den vielen Leuten hatte. Und dann entdeckte man, dass man die Reste im Becher beim Abräumen ja auch austrinken konnte. Und das der Wein wirklich gegen die Schüchternheit half und allgemein beim Dienst und gegen die Kälte und später beim Einschlafen. Und überhaupt bei allem", er sah hoch:

"Ich war mit neun Jahren schon öfters tüchtig betrunken, und hätte ich es nicht sein lassen, wäre ich vielleicht nicht einmal elf geworden. Ein guter Mann hat mich gerettet. Aber daher bin ich vorsichtig, was den Weinkonsum angeht"

Diesmal war sein Ausdruck anders, voller Wärme, einen Moment lang, dann besann er sich wieder, wo er war. Er sagte:
"Verzeih mir, Eques Balventius Varro, wenn ich dich nicht angemessen unterhalte. Das liegt nicht in meiner Absicht. Fortuna hat es immer gut mit mir gemeint, in jeder Beziehung", er deutete auf die prächtige Umgebung.
Varro wehrte sich gegen das aufkeimende Gefühl des Ekels, das die Erzählung von Flavianus in ihm hervorrief. Doch er hörte zu. Menschliches Elend war ihm nicht fremd. Und Elend, das vor aller Augen in den Marmorhallen Roms stattfand, schien das reinste von allen zu sein.
Als Flavianus geendet hatte, stellte der Ritter den Becher ab und richtete sich auf, bis er saß.
„Ich verstehe“, sagte er zunächst und suchte nach Worten, die beschrieben, wie er über die Sache dachte. „Mach dir keine Sorgen, meine ‚Unterhaltung‘ kann auch mal Pause machen. Ich gebe zu, mir war ja klar, wie es in den kaiserlichen Kammern so zugehen muss, und doch kann einen immer noch etwas überraschen. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt derart angewidert wurde.“ Und das wollte etwas heißen, immerhin sah man in so einer Mine so einiges und Varro hatte bereits mehr Mörder, Vergewaltiger und Räuber gesehen als die meisten anderen. Und die meisten starben noch elendiger als sie gelebt hatten.
Varro war kein Kind von Traurigkeit. Wenngleich er immer eine Aversion gegen ausschweifende und prunkvolle Feiern gehabt hatte – er mochte es lieber praktisch und weniger exzessiv -, hatte er sich seinen Spaß immer geholt, wann immer er Lust hatte. Doch der Gedanke an Kinder, der war nun doch in keiner Weise reizvoll für ihn.
„Es ist erstaunlich“, begann er gedehnt, „welche Türen einem geöffnet werden können. Und ebenso, wie hoch der Preis sein kann für das Öffnen dieser Türen. Die Vergangenheit formt uns unwiderruflich und manchmal fragt man sich ‚war es das wert?‘. Es… tut mir leid, das zu hören. Umso besser doch, dass uns hier, weit fern von daheim, ein neuer Anfang ermöglicht wird.“
Varro ließ offen, ob er mit seinen Worten Flavianus oder sich selbst meinte. Doch auf fremden Wunden herumzureiten, war nicht sein Ding.
„Nun… der Gedanke an Kinder in meinem Bett hat mich noch nie gereizt. Möglicherweise bin ich nicht unsicher genug, um mir so kleine Gestalten zu holen. Der neunjährige Flavianus interessiert mich daher nur wenig.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Ganz im Gegensatz zum erwachsenen Flavianus, der mich mehr als interessiert.“
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