RE: Die Hütte von Boduognatus
In einem Moment noch war mein größtes Problem die Frage, ob Calum und Dunduvan den Tag ohne Streit rumkriegen würden, und im nächsten stand meine ganze Welt unwiederbringlich auf dem Kopf. Ich stand noch da, wollte mit Calum zum Tisch gehen, als der vermeintliche Bursche aufstand, die Kapuze über den Kopf nach hinten wegklappte, und sich in sie verwandelte. Im ersten Moment dachte ich, dass ich schon wieder träumte. Viele meiner Träume waren so real, dass ich nicht immer wusste, ob ich gerade schlief oder nicht. Caradoc hatte es grüne Träume genannt, als ich ihm davon erzählt hatte. Erst gestern hatte ich einen gehabt. Und grade dachte ich schon wieder daran und fragte mich, ob der ganze Tag heute auch Teil des Traumes war und ich eigentlich noch schlief. Irgendwie wünschte ich mir, dass es so wäre, dann würde ich nämlich aufwachen und das hier wäre nicht so, wie es war.
Aber ich wachte nicht auf. Das Blut rauschte in meinen Ohren, und wahrscheinlich hätten in genau diesem Moment auch zehn nackte Elfen hereinkommen und tanzen und mich mit Misteln krönen können, um mir zu verkünden, dass der Gehörnte Gott mich in die Anderswelt berief, um mich zu seinen Jägern zu berufen und seine Große Jagd anzuführen – ich hätte es nicht bemerkt. Vielleicht passierte das ja auch gerade? Keine Ahnung, ich schaute nur auf Helena Raven, die sich nicht nur von einem Jungen gerade in ein Mädchen verwandelt hatte, sondern auch noch von einem Mädchen, für das ich… ich wollte jetzt nicht nachdenken, was ich für sie empfand. Es war jetzt hinfällig, musste hinfällig sein. Sie war meine Schwester. Eine Priesterin. Eine von uns. Ich durfte nichts empfinden, was über die Gefühle eines Bruders hinausging.
Und trotzdem dachte ich an meinen Traum, wie wir uns im Wald vereinigt und geliebt hatten, wie wir eins und vollkommen waren und alles auf einmal Sinn gehabt hatte. Und daran, wie sie sich verwandelt hatte, an die Augen aus reinem Sonnenlicht und den Donnerschlag, als sie meinen Namen ausgesprochen hatte.
Ich merkte, dass ich sie einfach nur anstarrte, ohne mich zu rühren oder etwas zu sagen. Ich hätte so viel zu sagen gehabt, aber gleichzeitig auch keine Worte dafür. Und ganz unmöglich konnte ich ihr alles, was in meinem Kopf so vor sich ging, JETZT sagen. Meine Brüder waren beide hier, und die würden ganz sicher kein Verständnis dafür haben, aus verschiedensten Gründen. Und Cartivel war ja auch noch da, den ich überhaupt nicht einschätzen konnte. Aber ich nahm jetzt einfach mal an, dass er es nicht besonders lustig fände, wenn ich mich in die Jungfrau des Samhainfeuers verguckte.
“Raven“ wiederholte ich den Namen und meine Stimme fühlte sich bleiern und heiser an. Wieder entstand eine Pause, ehe ich mich meiner Lektionen erinnerte. Jetzt war nicht die Zeit dafür. Wahrscheinlich war nie die richtige Zeit dafür, aber jetzt war sie definitiv so überhaupt gar nicht. Und dass ich mich merkwürdig verhielt, fiel wohl auch dem Druiden auf, der mich fragte, ob ich mit Raven rausgehen und etwas klären wollte. Ich schaute zu ihm, und ja, verdammt gerne würde ich jetzt mit Raven alles besprechen. Wirklich alles. Aber das wäre zu auffällig, würde alles hier verzögern, und Calum und Dunduvan würden nur noch misstrauischer ihr gegenüber werden, wenn ich jetzt mit ihr nach draußen ging und keine Ahnung wie lange brauchen würde, um alles zu bereden, für das ich keine Worte und keine Erklärung hatte. Ich wollte das nicht zwischen Tür und Angel besprechen. Ich hatte zwar keine Ahnung, was ich sagen sollte, wenn ich mit ihr redete, aber dass ich mir dafür ZEIT nehmen wollte, das wusste ich ganz genau. Weil es so verdammt wichtig war, die nötige Zeit dafür zu haben, alle Worte zu sprechen und… ich hatte keine Ahnung. Wirklich gar keine. Aber ich wusste, dass es viel zu wichtig war, um es gehetzt zu tun.
Ich blinzelte kurz und sah dann Cartivel an. “Nein, du bist weit gereist und Calum hat keine Zeit.“ Ja, ich hatte die Aufmerksamkeitsspanne eines Eichhörnchens, aber ich hörte trotzdem zu. Und Calum hatte gesagt, er hätte keine Zeit. “Ich war nur gerade etwas überrascht, entschuldige. Ich dachte nur, Raven wäre dein Lehrling und ein Junge und nicht… meine Schwester.“
Ich wandte den Blick wieder ihr zu und hoffte, dass sie es in meinen Augen sah, was ich meinen Brüdern ihr gegenüber nicht zeigen wollte. Verrückt, ich weiß. Trotzdem hoffte ich, dass sie merkte, wie wichtig mir es in Wirklichkeit war, mit ihr zu reden. “Aber danach würde ich gern mit dir reden, wenn du Zeit hast. Ich… ich möchte gerne alles über meine Schwester wissen und sie kennenlernen. Also, so wirklich kennenlernen. Wenn du möchtest.“ Ich wollte ihr nicht weh tun. Verdammt, nie hatte ich ihr weh tun wollen, selbst dann nicht, als ich noch nicht wusste, wer sie war. Und ich wusste, dass meine Brüder wahrscheinlich schon das nicht unbedingt gut finden würden. Aber wahrscheinlich würden sie das verstehen. Ich hoffte es. Ich war schon immer neugierig gewesen, und allen Menschen aufgeschlossen. Das war mein Fehler. Also, einer von vielen. Aber sie kannten mich so.
Falke
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