RE: Im Moor - Das Tor zur Anderswelt und zu den Göttern
Declans Finger umschlossen vorsichtig den Becher, den Anwen ihm reichte. Der Junge blickte erst zögerlich, dann mit einer kindlichen Neugier zu ihr auf. Seine blauen Augen wirkten glasig und von einer unschuldigen Zerbrechlichkeit, die der Priesterin einen flüchtigen Stich durchs Herz jagte. Doch ihre Stimme blieb sanft, fast mütterlich, als sie ihn noch einmal ermutigte.
"Trink, Declan. Dies wird dir helfen, die Götter zu sehen."
Als Declan vorsichtig trank, traten zwei Helfer aus dem Hintergrund heran. Gekleidet in schlichte, weiße Gewänder, näherten sie sich mit leisen Schritten. Sie stützten den Jungen, einer auf jeder Seite und hielten ihn aufrecht, während er den berauschenden Trank zu sich nahm. Die Helfer waren notwendig, da Declan ohne ihre Hilfe in sich zusammengesunken wäre, unfähig, seinen Oberkörper selbst zu halten.
Die Wirkung des Tranks war beinahe augenblicklich. Declans Körper entspannte sich, und seine zuvor steifen, unbeholfenen Bewegungen wirkten plötzlich fließender. Sein Blick verlor die Schwere der Realität und wurde weit, staunend, als sähe er etwas, was den anderen verborgen blieb.
Anwen beobachtete ihn mit unbewegter Miene, doch in ihrem Inneren spürte sie eine Mischung aus Stolz und Unbehagen. Der Trank tat seine Wirkung. Er löste die Ketten, die den Jungen an die sterbliche Welt banden, und öffnete seinen Geist für die Visionen, die ihn auf seine Reise vorbereiteten. Declan lächelte nun. Sein verkrüppelter Körper schien vergessen zu sein und seine Augen strahlten mit einer reinen Freude, die ihn beinahe überirdisch wirken ließ.
"Ich glaube, sie rufen mich," murmelte er schließlich und sah zu Cathbad und Anwen auf. Seine Worte klangen undeutlich, da der Trank bereits begann, seine Zunge schwerfällig zu machen. "Ich werde fliegen können, nicht wahr?" Anwen legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter und nickte. "Ja, du wirst fliegen. Die Götter erwarten dich mit offenen Armen."
Die Helfer hielten Declan weiterhin, sanft, aber bestimmt, während der Junge sich zunehmend in seine Visionen verlor. Sein Atem wurde gleichmäßiger, sein Blick wanderte ins Leere, als ob er bereits auf der Schwelle stand. Als er schließlich die Augen schloss und ein träumerisches Lächeln auf seinen Lippen lag, war der Moment gekommen. Der Trank hatte ihn ruhig und bereit gemacht. Sein Geist war bereits in den Händen der Göttin.
Auf ein leises Zeichen von Anwen hin, begannen die beiden Opferhelfer, den Jungen mit geübten, respektvollen Bewegungen zu entkleiden. Zuerst lösten sie die schlichte Tunika, die seinen zarten, kindlichen Körper umhüllte. Der Stoff, schwer vom Nebel und feucht von der feuchten Luft des Moors, glitt beinahe lautlos zu Boden. Declan spürte die Berührungen kaum. Seine Gedanken waren weit weg, getragen von den Halluzinationen des Tranks. Sie nahmen auch die letzten Kleidungsstücke ab, bis Declans blasser, verletzlicher Körper nackt vor ihnen lag.
Anwen trat näher. Sie hielt ihre Handflächen offen gen Himmel und begann, leise Worte an die Göttin Andraste zu murmeln. Die Bedeutung dieser Geste war klar: Der Junge, so entblößt und verletzlich, wurde nicht nur physisch, sondern auch spirituell der Göttin übergeben. Seine Nacktheit war ein Zeichen der völligen Hingabe und Reinheit, frei von den Lasten und Bindungen der sterblichen Welt.
Die Helfer richteten Declan erneut vorsichtig auf, damit nun das Opfer vollzogen werden konnte. Seine schmale Brust hob und senkte sich gleichmäßig, und sein Gesicht war von einem friedlichen Ausdruck erfüllt. Der Junge schien vollständig in die Anderswelt eingetreten zu sein, während sein Körper noch in dieser Welt verweilte.
Cathbad trat mit der feierlichen Ruhe eines Mannes vor, der wusste, dass er die Schwelle zwischen Sterblichen und Göttern bewachte. In seiner Hand hielt er eine Schnur, die bereits in vielen Opfern das Werkzeug der Trennung von Leben und Anderswelt gewesen war. Mit einem schnellen, präzisen Griff schlang er sie um den Hals des Jungen, zog sie fest, aber nicht mit unbedachter Gewalt. Declans Körper zuckte leicht, und ein leiser Seufzer entwich seinen Lippen, bevor er in eine erschreckende Stille verfiel.
Anwen trat unmittelbar danach vor. Ihre Augen waren kalt und entschlossen, das Symbol der Göttin leuchtete wie ein Mahnmal auf ihrem grauen Gesicht. Sie hielt eine kleine Axt, die für rituelle Zwecke bestimmt war, in ihrer rechten Hand. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und geübt. Mit einem präzisen Schlag ließ sie das Opferwerkzeug auf den Hinterkopf des Jungen niedersausen. Der dumpfe Klang hallte durch die nebelverhangene Stille des Moors, und Declans Körper sank schwerer in die Arme der Helfer.
Nun griff sie nach ihrem Opfermesser, einer scharfen, schlicht gearbeiteten Klinge, die sie schnell an Declans Kehle ansetzte. Mit einem einzigen, sicheren Schnitt durchtrennte sie die weiche Haut und öffnete die Arterie. Ein dunkler Strom von Blut floss hervor, warm und lebendig, und ergoss sichin eine Schale, die auf der feuchten Erde stand. Das Herz des Jungen schlug noch einige letzte Male, pumpte das Blut aus seinem Körper, bevor es schließlich stillstand.
Anwen hielt inne, ihr Atem ging schwer. Die Reste von Declans Leben sickerten langsam in die Opferschale, und mit jedem Tropfen schien die Luft schwerer zu werden, fast erdrückend vor Präsenz. "Andraste," rief sie, ihre Stimme durchdrang die Stille, "wir senden dir Declan, König Cahirs Sohn! Nimm sein Opfer und schenke ihm deinen Sieg!"
Der Nebel um sie herum verdichtete sich, als hätte das Moor selbst geantwortet. Ein unheimlicher Wind fuhr durch die Szenerie, ließ die Flamme der Opferfackel flackern, und die Menschen, die um den Ritualplatz versammelt waren, sanken ehrfürchtig auf die Knie, als die beiden Opferhelfer den leblosen Körper, der einmal Declan, Cahirs Sohn gewesen war, in das Wasser des kalten dunklen Moors sinken ließen. Mit der Opferschale in der Hand, trat sie nun zum König hin, tauchte zwei Finger in das naoch warme Blut und bestrich damit Cahirs Stirn und Wangen.
Das Ritual war vollzogen. Das Moor war still, doch es schien, als hielte die Anderswelt den Atem an, als würde sie auf die kommenden Tage des Krieges und des Sieges warten.
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