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Im Morgengrauen
10-02-2023, 09:57 AM,
Beitrag #11
RE: Im Morgengrauen
"Es sprechen weise Worte aus dir, Ciaran Maireadssohn!" sagte ich anerkennend als er so neben mir herlief. Cathbad hatte offenbar gute Arbeit an ihm verrichtet und ihm den Weg zu höherem geebnet. Eines Tages würde er ein guter Druide sein. Da war ich mir ganz sicher. 
Mir war auch klar, dass ich ihn mit meinen Worten verunsichert haben musste. Deshalb warf er mir auch ständig Blicke zu. Ich konnte mir gut vorstellen, was in ihm gerade vorgehen mochte. Schließlich schien es, als sei er wie ein offenes Buch, aus dem man ungehindert lesen konnte. Jedoch verfügten nur wenige über die Gabe des Lesens. Das musste ihm auch klar sein. Als er dann meinte, er möge mich nicht, nickte ich. "Nur selten mag man die Welt, in die man hinein geboren wurde. Warum also solltest du mich da mögen?" entgegnete ich ihm ebenso nüchtern. Als er dann meinte, er würde mich nicht kennen und er habe mich noch nie gesehen und dass es ihn unruhig mache, dass ich seinen Namen und den seines Bruders kennen würde, sah ich zu ihm auf. Er war stehen geblieben, um eine Baumflechte zu lösen. "Oh, du irrst dich! Du hast mich schon einmal gesehen! Vor vielen Jahren. Aber du warst noch zu jung, damals! Ich kenne dich, deinen Bruder und ich kannte auch eure Mutter. Sie war eine meiner Schülerinnen, damals auf Mona. Und offenbar hat sie ein paar Dinge, die sie mochte, an dich weitergegeben." antwortete ich lächelnd und deutete auf die Baumflechte, die er in einem Behältnis verstaut hatte. Er war die Bestätigung dessen, dass sich alles in einem stetigen Kreislauf befand. Ohne Anfang und ohne Ende.
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10-02-2023, 02:35 PM,
Beitrag #12
RE: Im Morgengrauen
Jetzt auch noch der Name meiner Mutter. Nicht dass mir die irgendwas bedeutet hatte. Sie war ein Werkzeug, dafür geboren, mich und meinen Bruder hervorzubringen, und nachdem dieser Zweck erfüllt war, hatte sie keinen weiteren Nutzen gehabt. Die anderen Falken hingen teilweise an ihren Müttern, selbst nach deren Tod, und dachten an sie und ihr Schicksal und all das. Mir war das relativ gleichgültig. Mich störte vielmehr, dass diese Alte hier mehr wusste als ich, und das mochte ich nicht. Ich war selten der, der weniger wusste als die anderen. Meistens sah ich so viel mehr, als sie je verstehen würden, so dass ich mich schon an diesen Zustand gewöhnt hatte. Das hier, das war… nervig.
“Oh, die Welt mag ich. Selbst die Dinge, die viele andere verabscheuen oder ändern wollen. Ich mag nur dich im Moment nicht“, meinte ich ganz offen und ehrlich, als sie meinte, das liege an der Welt. Aber die Welt war voller Möglichkeiten, voller Dinge, die ich erforschen konnte, voller Wissen, das ich entdecken und verstehen konnte und nicht zuletzt voller Leute, die ich umbringen konnte. Oh, die Welt war ziemlich großartig. Alte Frauen, die mich zu reizen versuchten, die waren das Problem, nicht die Welt.

Dann aber endlich gab sie zu erkennen, woher sie die Sachen wusste, die sie wusste. “Dann muss das sehr lange her sein. Ich erinnere mich an alles, seit ich vier Jahre alt bin“, meinte ich und legte den Kopf leicht schief. “Mairead war mehr wie Cinead. Ich bin etwas anderes“, antwortete ich, als sie meinte, Mairead hätte etwas an mich weiter gegeben. Aber meine Mutter hatte nie einen tieferen Sinn erkennen lassen, dass sie die Götter so verstand wie ich es tat. Sie hätte meine Experimente nicht gutgeheißen und mich, wie Cinead auch, zu mehr Vorsicht und Überlegungen ermahnt. Sie hätte sicher kein Wildschwein über vier Wochen in seinem Körper gefangen, bis der noch lebendige Körper nach Fäulnis gestunken hätte und Cinead darauf bestanden hatte, es zu beenden. Mairead war schwach gewesen. Sie war gebunden an Moral, an gesellschaftliche Konvention und an Regeln. Ich war das nicht. Ich hörte einzig auf die Götter.

“Du bist also Priesterin? Was machst du hier draußen? Solltest du nicht in Mona oder Tor Uisneach sein, oder an einer Quelle oder einem Heiligtum?“ Ich war fertig mit dem Sammeln der Flechte und machte mich weiter auf dem Weg und versuchte, hinter das Geheimnis zu kommen, warum mir diese Frau über den Weg lief und warum ich sie offenbar nicht töten sollte. Es musste einen Grund geben. Nur welchen? Ich hasste es, wenn ich etwas nicht durchschaute.
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Falke
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10-03-2023, 04:30 PM,
Beitrag #13
RE: Im Morgengrauen
Er mochte die Welt und Dinge, die andere verabscheuten oder ändern wollten. Nur mich mochte er im Moment nicht. Ich legte den Kopf etwas schief. "Damit kann ich leben. Denn immerhin besteht die Möglichkeit, dass du mich vielleicht eines Tages magst." entgegnete ich ihm.
Wahrscheinlich umgab ihn eine gewisse Erleichterung, als ich endlich Preis gab, woher ich ihn, seinen Bruder und seine Mutter kannte. "Ja, es ist schon sehr lange her. Ich war dort, als ihr vor achtzehn Jahren gezeugt wurdet und ich war dort, als ihr geboren wurdet. In eurem fünften Jahr habe ich Mona verlassen."  Dann begann Ciaran davon zu erzählen, woran er sich noch erinnerte. Freilich waren es die Erinnerungen eines kleinen Kindes, das damals noch nicht richtig verstehen konnte, was um es herum geschah. Erst später hatte man ihm erzählt, was er glauben sollte, so wie bei all den anderen Falken auch. "Deine Mutter war eine gelehrsame Schülerin gewesen. Ich glaube, das warst du auch. Oder irre ich mich etwa?"
Doch dann begann er, mich auszufragen. Er wollte natürlich wissen, wa
rum ich nun hier lebte und weshalb ich Mona den Rücken gekehrt hatte und nicht etwa nach Erin gegangen war.
"Ja, ich war eine der Pristerinnen von Mona. Als die Römer kamen, teilte ich das gleiche Schicksal eurer Mütter." Nun, in gewisser Weise. Ich wusste genau, dass es nicht so war, denn im Gegensatz zu all den anderen geschändeten Priesterinnen, hatte ich den Römer gekannt, der mich an diesem Tag 'geschändet' hatte. Eigentlich war es keine Schändung gewesen, denn im Grunde hatten wir nur das getan, wovon wir all die Jahre nach unserer ersten Begegnung geträumt hatten. Es war ein Akt der Liebe gewesen, nicht des Krieges. Doch nach außen hin hatte Lucius es so aussehen lassen, als habe er mich vergewaltigt 
"Auch ich habe einen Sohn zur Welt gebracht. Aber er war anders. Aus diesem Grund konnte ich nicht länger dort bleiben." Und daher hatte ich nicht länger eine Priesterin sein können, denn mein Gewissen hatte an mir genagt. Außerdem hatte ich nicht mein Leben aufgeben wollen. Mein Leben gehörte meinem Sohn.Ihn hätte ich auch niemals hergeben können. Auch wenn ich es später doch zulassen musste, dass man ihn mir wegnahm.
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10-03-2023, 05:40 PM,
Beitrag #14
RE: Im Morgengrauen
“Die Möglichkeit besteht immer. Ich würde aber keine allzu großen Hoffnungen hegen“, meinte ich reichlich trocken, während ich weiter mein Pferd suchte. Hier im Wald war die Spur zwar leichter zu sehen – abgeknickte Zweige und Pferdehaar überall – aber das Vorankommen war mit dem Unterholz schwieriger. Warum rannte mein blöder Gaul in den Wald? Das war nicht sein natürlicher Lebensraum, zu schnell brachen die Tiere sich die Beine und waren dann Wolfsfutter.

Während wir uns durch die Büsche, Wurzeln und das Unterholz schlugen, fing Ceridwen dann auch an, zu erzählen. Sie war Priesterin auf Mona gewesen und auch vergewaltigt worden. Soweit, so unspektakulär für mich. Falls sie deshalb Mitleid suchte, war ich der falsche Ansprechpartner. Ich war der Überzeugung, dass dieser Tag einen Sinn gehabt hatte, auch wenn der bislang nur darin bestanden hatte, dass ich gezeugt worden war. Die anderen Falken haderten damit, aus einer Vergewaltigung zu stammen. Mir war das vollkommen gleichgültig, ob Mairead den Mann, der mich gezeugt hatte, gewollt hatte oder nicht. Es war von den Göttern bestimmt worden, dass er mich zeugen sollte, und fertig.
Dann aber meinte sie, sie hätte einen Sohn zur Welt gebracht. Das ließ mich doch abrupt stehenbleiben und sie intensiv ansehen. Sie hatte einen weiteren Falken auf die Welt gebracht? Und sie lebte noch? Und sie erzählte es mir?! Obwohl sie wissen musste, dass die Druiden beschlossen hatten, dass die Frauen, die Kinder bekommen hatten, sich selbst zu töten hatten und die Söhne an Cathbad übergeben werden mussten? Obwohl sie wusste, dass das ihr Leben jederzeit und völlig rechtmäßig beenden könnte, weil jeder von uns sie einfach so umbringen dürfte, auf Urteil der Druiden? Und trotzdem erzählte sie es mir?

Ich schaute sie sehr forschend an, ob es ihr herausgerutscht war, ob sie unter einem Zauber stand oder ob sie dumm war. Aber nein. Nichts davon.
Ein wenig Licht brach durch das Blätterdach, und für einen Augenblick warf es helle Lichtmuster über uns und das viele Grün, das hier überall wuchs. Ich sah Huflattich und Salbei, Misteln in den Bäumen, Ginster und leuchtenden Fuchsschuh, und noch hunderte Pflanzen mehr, alles gleichzeitig. Aber vor allen Dingen sah ich die Linien, die Welt hinter der Welt, die Anderswelt, die Verbindungen und Muster. Und das, was mich so sehr gereizt hatte wie ein Juckreiz hinter meinen Augen, klarte etwas auf.

Und ich musste lachen. Sehr laut und heftig.

“Du hast dich also den Druiden widersetzt und bist abgehauen? Und hast Cathbad um nicht nur ein Leben betrogen, sondern zwei?“ Oh, das war zu lustig. Viel zu lustig. Ich musste wieder prustend lachen. Die meisten Menschen verstanden den Witz vermutlich nicht und würden sich vor dem Zorn der Götter oder zumindest dem der Druiden fürchten. Aber die meisten Menschen waren schrecklich blind und dumm obendrein. “Und er weiß das? Und er weiß, dass du hier bist?“
Ich lachte noch ein wenig mehr. “Jetzt weiß ich, warum die Götter nicht wollten, dass ich dich töte. Das hier ist viel zu lustig.“
Ich schüttelte mich und ging weiter. Jetzt war meine Laune schon sehr viel besser als noch zuvor. Das war wirklich zu lustig. Ein weiterer Falke, entkommen, frei fliegend. Nicht nur ein Mädchen, das Cathbad uns vorenthalten und später eingeschmuggelt hatte, sondern auch ein Junge… Moment. Ich blieb noch einmal stehen und lachte noch mehr, als mir noch mehr klar wurde. Cathbad hatte Raven verschont, weil Ceridwen mit ihrem Kind abgehauen war. Weil dann seine Rechnung nicht mehr stimmte. Weil er um ein Leben betrogen worden war und es ausgleichen musste. Raven hätte eigentlich sterben sollen, wie alle Mädchen, aber Cathbad brauchte einen Ersatz für Ceridwens Sohn! Es war so dermaßen offensichtlich, dass ich mich selber fragte, wieso ich nicht von selbst darauf gekommen war.

Ich grinste von einem Ohr zum anderen, als ich weiter ging. “Und dein Sohn ist auch in Cheddar? Wie heißt er?“ Ja, ich war neugierig. Wahrscheinlich würde Cathbad, sollte er davon erfahren, wollen, dass Cinead ihn und auch Ceridwen umbrachte, aber das ging mich nichts an. Ich sah mich schon lange nicht mehr an Cathbad gebunden. Er glaubte zwar, zu sehen, aber er sah nicht wirklich. Er sah nur das, was er sehen wollte, was ihm gefiel, nicht das, was die Götter wirklich vorhatten.
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Falke
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10-03-2023, 09:13 PM,
Beitrag #15
RE: Im Morgengrauen
Mein Mundwinkel zuckte zu einem kurzen Lächeln, als er meinte, die Möglichkeit bestünde, dass er mich eines Tages mögen könnte. Doch ich solle mir keine Hoffnung machen. 
Wir kämpften uns inzwischen weiter durch das Unterholz, auf der Suche nach seinem Pferd. Eigentlich müsste es hier irgendwo sein. Doch noch immer entzog es sich unserem Sichtfeld.

Meine Geschichte, die ich ihm erzählt hatte, schien ihn zu amüsieren. Er lachte laut und durchdringend. Mir hingegen war ganz und gar nicht zum Lachen. Ciaran fragte, ob ich mich den Druiden widersetzt hätte und abgehauen war. „
Auf meinem Gesicht erschien ein schmales Lächeln."Ja, das habe ich wohl. Und ja, er weiß, dass ich hier bin." Er wusste es schon damals, aber er konnte nichts dagegen tun. Denn auch wenn ich nicht besonders stolz darauf war, hatte ich bis vor gut zwei Jahren unter besonderem Schutz gestanden. Cathbad hatte es nicht gewagt, mich anzurühren und inzwischen spielte es eh keine Rolle mehr, ob ich lebte oder tot war. Ich war inzwischen eine alte Frau, eine Gwrach, vor der sich alle fürchteten und fern hielten. Deshalb lebte ich sehr isoliert.

Grinsend fragte er mich weiter nach meinem Sohn aus. Mir jedoch war inzwischen zum Weinen zumute. Doch ich riss mich zusammen, um nichts nach außen zu krempeln, was zeigte, wie es in mir aussah. Das hatte ich in all den Jahren gelernt. Gleichgültigkeit zu mimen, wo mir nicht gleichgültig war.
"Nein, mein Sohn ist nicht in Cheddar. Er ist fort. Bran, sein Name war Bran." sagte ich und starrte ins Nichts.
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10-04-2023, 05:09 PM,
Beitrag #16
RE: Im Morgengrauen
Wenn Cathbad wusste, dass sie hier war, sie aber noch lebte, musste es dafür Gründe geben. Ich kannte den alten Mann gut genug um zu wissen, dass er so einen Ungehorsam nie auf sich sitzen gelassen hätte. Etwas oder jemand musste ihn abgehalten haben, und ich bezweifelte, dass Ceridwen allein solche Macht besaß. Vermutlich hatte sie in jungen Jahren mal mit dem halben Karnutenwald gevögelt, um sich entsprechende Gefallen zu erschlafen. Sonst hätte Cathbad ganz sicher den Auftrag erteilt, sie zu töten. Und ich war mir auch sicher, dass Cinead oder ich das hätten tun können. Ich könnte es auch jetzt. Es wäre ganz leicht. Sie sähe es nicht einmal kommen.
Aber nicht einmal dieser Gedanke stimmte mich vorfreudig oder nervös oder rief irgend etwas hervor. Verdammt, die Götter wollten wirklich nicht, dass ich sie tötete. Vielleicht hatte sie auch mit der Anderswelt gevögelt und nicht nur mit dem Karnutenwald.

Und dann auf einmal, nachdem sie so offen geredet hatte, zog sie sich zurück. Ich blieb stehen und sah sie mit schief gelegtem Kopf an. “Ich sehe dich“, sagte ich einmal und stieß mit meinem linken Zeigefinger auf ihre Stirn auf die Stelle zwischen den Augen, wo ich glaubte, dass die wahre Sicht sich versteckte. Vielleicht öffnete sie ja den Blick, wenn ich sie dort einmal stupste. “Du versteckst dich gerade vor mir, aber ich sehe dich genau, Ceridwen. Ich bin nicht Cathbad. Ich sehe nicht nur die Dinge, die ich sehen will. Das ist mein Fluch. Zu sehen. Zu wissen. Also versteck dich nicht vor mir.“

Ich drehte mich um und folgte der Spur. “Du sprichst von ihm, als wäre er tot. Ist er denn tot?“ Kinder starben. Oft. Das wäre nichts besonderes. Sie wurden wiedergeboren, wie alle von uns. Die Guten, die Bösen, sogar die Blinden unter uns.

Das Dickicht wich einer Lichtung, und endlich sah ich meinen Hengst friedlich grasen. Er war allein und zerkratzt und verschwitzt. Aber weder ein Dieb noch eine Stute war zu sehen. Ich ging auf ihn zu und nahm ihn am Zügel, führte seinen Kopf zu meinem, um mit ihm zu sprechen. “Dummes Pferd. Wenn du ein Einhorn vögeln willst, sag es mir doch einfach und lauf nicht weg.“ Ich strich über seine Nüstern und schaute kurz, ob es verletzt war, aber es schien wohlauf zu sein. Wahrscheinlich war es weggelaufen, weil die Götter mir diese Unterhaltung schenken wollten. Zumindest war diese Unterhaltung mit Ceridwen hinreichend interessant, um diesen Gedanken zuzulassen.
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Falke
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10-05-2023, 05:03 PM,
Beitrag #17
RE: Im Morgengrauen
Ein kleiner Moment der Unachtsamkeit musste es gewesen sein, in dem ich mich verraten hatte, dass wohl viel mehr hinter meinem Verschwinden von Mona steckte, als ich gerade zugeben wollte. Aber Ciaran ließ sich nicht täuschen. Er besaß tatsächlich das zweite Gesicht, das ihm erlaubte, zu sehen. Dinge, die erst noch geschehen würden und Dinge, die bereits geschehen waren, aber im Verborgenen gelegen hatten.
"Der Vater meines Sohnes hat mich von dort fort geholt. Mich und Bran. Ich konnte nichts dagegen tun. Er hat uns dann hierher gebracht. Seitdem lebe ich hier." Anfangs hatte er mich regelmäßig besucht. Auch um nach seinem Sohn zu schauen. Aber dann war er gekommen, um ihn mir wegzunehmen. Er hatte ihn einfach mitgenommen, denn er wollte aus ihm einen Römer machen. Damals hatte ich geglaubt, ich müsse sterben, denn für mich war es so, als habe er mir das Herz herausgerissen. Meinen Sohn sah ich erst einige Jahre später wieder, als er zwölf Jahre alt war. Er hatte nichts mehr an sich, was irgendwie noch an Bran erinnerte. In seinen Augen hatte ich nur die Verachtung für sein Volk widergespiegelt.

Ciaran folgte weiter der Spur durch das Dickicht. Bald schon eröffnete sich vor uns eine Lichtung. bis es jedoch soweit war, fragte er weiter. Ja, ich hatte von Bran gesprochen, als sei er tot. Das war er auch. Bran gab es nicht mehr!
"Ja, er ist tot! Bran starb, als er fast sechseinhalb Jahre alt war," antwortete ich und sah zum Boden hinab. Er sollte meine Trauer nicht sehen. Meine Trauer gehörte nur mir! Bran würde  auch nicht eines Tages wieder kommen, denn er war verdammt.

Endlich tauchte auch Ciarans Pferd wieder auf. Er ging zu ihm hin und nahm es an seinen Zügeln. "Na siehst du! Was habe ich dir gesagt? Hier ist dein Pferd und wartet auf dich," meinte ich lächelnd.
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10-05-2023, 08:17 PM,
Beitrag #18
RE: Im Morgengrauen
Und wieder versteckte sie sich vor mir, sah zu Boden, als sie von ihrem Sohn sprach. Warum? Ich verstand so etwas nicht. Gerade eben hatte ich ihr gesagt, dass ich das durchschaute, und doch bestand sie darauf, weiterhin die Maske zu tragen, als wäre es ihr gleichgültig, als wäre da kein Schmerz.  Ich schüttelte den Kopf. “Menschen sind so anstrengend“, sagte ich zu meinem Pferd und fing an, die Kletten aus seinem Fell zu klauben. Nicht, dass sie mich stören würden, mir war egal, ob das Tier sauber oder dreckig war. Aber dem Pferd war es nicht egal, es würde sich dauernd scheuern wollen, bis die Dinger ab waren.

“Warum bist du mit dem Vater mitgegangen?“
Ich sah sie von der Seite her an, während ich die grünen Pflanzen-Stachelbälle nach und nach abzupfte und ins Unterholz warf, wo sie aufgehen und neue Kletten bilden würden. Ganz leicht legte ich den Kopf schief, während ich sie beobachtete. “Du hast ihm vertraut“, sagte ich, noch ehe sie antworten konnte. Es war eine Feststellung, keine Frage, aber auch keine Anklage. Aber es war interessant, wieso eine Priesterin mit einem Römer mitging, der sie angeblich vergewaltigt hatte, um ein Kind zu verstecken, das eigentlich den Druiden gehören sollte. Ich fragte mich noch einmal mehr, warum ich bei diesen vielen Gründen gegen sie ihrem Leben als Verräterin nicht ein schnelles Ende setzen sollte. Es wäre logisch gewesen. Es entsprach meiner Aufgabe, oder zumindest dem, was Cathbad dafür hielt. Und trotzdem war da nicht das leiseste Gefühl vorhanden, dass ich es tun sollte. Und das, wo sie mir so viel erzählt hatte, und noch mehr verbarg.
Vielleicht war ich kaputt und die viele Vögelei mit Deirdre machte mich matschig im Kopf. Das wäre auch eine mögliche Erklärung.
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Falke
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10-07-2023, 10:28 PM,
Beitrag #19
RE: Im Morgengrauen
Nach all den Jahren standen mir immer noch ein paar Tränen in den Augen, wenn ich an Bran denken musste. Als Ciaran etwas sagte, hob ich meinen Kopf und sah ihn fragend an. Aber er kümmerte sich um die Kletten im Fell seines Pferdes. Doch dann kam ganz unerwartet eine weitere Frage. Die Frage, warum ich damals mitgegangen war.

"Er hat mich dazu gezwungen. Er kam in der Nacht, denn er wusste, dass ich noch dort war. Er nahm uns beide mit." Damals war ich nicht ganz unfreiwillig mitgekommen, denn die Fluchte von Mona bedeutete für Bran und mich, dass wir leben würden. Außerdem gab es da immer noch etwas zwischen uns. Auch wenn ich alles verabscheute, was irgendwie römisch war. Für ihn hatte ich damals immer noch Gefühle.
"Ja, ich hab ihm vertraut. Ich glaubte, was er mir erzählte. Jedes einzelne Wort. Er versprach mir, für uns da zu sein. Er wollte uns ein Heim geben. Ganz nah bei sich. Damals wusste ich noch nicht, dass bereits eine Familie hatte. Das erfuhr ich erst später. Aber ich habe sie nie kennengelernt. Das wollte ich auch nicht. Nachdem Bran gegangen war, war das für mich auch nicht mehr länger von Belang. Danach kam er nur noch selten und irgendwann gar nicht mehr. Ich hörte, dass er vor zwei Jahren gestorben sei." Ich hatte keine einzige Träne für ihn vergossen, denn er hatte mir alles genommen, was für mich noch eine Bedeutung hatte. So oft hatte ich mir gewünscht, ich sei damals auch getötet worden. Aber die Götter hatten mich gestraft für meinen Verrat. Sie hatten mich zur Einsamkeit verdammt. Sie hatten es zugelassen, dass man mir meinen Sohn nahm. Nichts und niemand blieb für längere Zeit bei mir. Ich war die Gwrach, vor der sich alle fürchteten!
"Nun weißt du alles über mich, was es zu wissen gibt. Wenn du meinst, du müsstest mich nun töten, dann nur zu! Lass dich nicht aufhalten!" Meine Augen fokussierten ihn. Ich wollte dem Tod ins Auge blicken, wenn er denn an diesem frühen Morgen zu mir kommen sollte. "Falls nicht, komm mit zu meiner Hütte. Ich mache uns einen frischen Kräuteraufguss. Oder möchtest du lieber warmen Met?" Beides wärmte vorzüglich an einem kühlen Morgen.
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10-08-2023, 02:09 PM,
Beitrag #20
RE: Im Morgengrauen
Gezwungen, klar. Er war sicher mit der ganzen Legion eingerückt. Nicht. Warum meinten die Menschen nur, unehrlich sein zu müssen bei solch belanglosen Dingen und wahrscheinlich sogar zu sich selber? Sie hätte sicherlich die Möglichkeit gehabt, zu schreien, sich zu wehren, oder spätestens hier dann mit ihrem Kind wegzulaufen. Sie war so wenig entführt worden, wie ich von Cathbad entführt worden war. Die Wahrheit war, dass sie dort war, wo sie glaubte, sein zu müssen. Nicht, weil sie es musste, sondern einfach nur, weil sie es glaubte. Warum weigerten sich die Menschen, durch diesen selbst verursachten Nebel hindurchzusehen? Es war so… anstrengend.

Aber wenigstens eine Sache war sie bereit, klar zu sehen: Ihren möglichen Tod. Sie bot mir an, sie umzubringen. Nach dem, was sie mir alles gerade erzählt hatte, glaubte ich, dass ein Teil von ihr sich danach sehnte, dieses Leben hinter sich zu lassen und nach der nächsten Wiedergeburt die Dinge besser zu machen.
“Ich habe darüber nachgedacht, dich zu töten“, sagte ich ganz offen, denn ich sah keinen Grund, mich hier und jetzt hinter hübschen Lügen zu verstecken. Wofür auch? Was sollte sie machen? Sie sagte zwar, sie würde mich nicht aufhalten, wenn ich sie umbringen wollte, aber auch hier war die Wahrheit, dass sie es gar nicht könnte. Selbst mit verborgenen Waffen nicht. Ich hatte noch nie dabei versagt, jemanden zu töten.
Ich seufzte leicht und schloss meine Arbeiten am Pferd ab. “Aber die Götter wollen es nicht. Ich weiß zwar nicht, warum oder was sie vorhaben, so gesprächig sind sie nicht, aber sie wollen nicht, dass ich dich töte. Und solange das so ist, hast du von mir nichts zu befürchten.“

Ich ruckte leicht am Zügel, damit das Pferd mir folgte. “Ich sollte baden, ich rieche nach Sex“, sagte ich ihr. “Hat deine Hütte einen Waschzuber und Wasser, dass nicht nach der Römerstadt mieft?“ Mir tat es auch ein sauberer Bach, aber offenbar wollte sie noch reden, sonst hätte sie mich nicht eingeladen. Dann musste sie aber damit leben, dass ich meinen drahtigen Hintern in ihrer Hütte wusch.
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Falke
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