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Nordstraße
04-26-2023, 03:21 PM,
Beitrag #6
RE: Nordstraße
Mein Bruder führte uns in den Wald. Immer wieder kniete er sich hin und deutete Spuren, gab stumm Zeichen. Ich nickte nur dann und wann und folgte ihm durch das Unterholz, vorsichtig meine Schritte genau setzend, so dass wir beide wie Schatten umhergingen. Nicht einmal die Vögel hörten auf zu singen, während wir liefen. Jagen war gut, es vertrieb für einen Moment die Stimmen und das Stechen und die Langeweile und fokussierte den Geist auf ein Ziel. Es half, nicht immer, aber es half.

Wir kamen gegen den Wind, so dass sie uns nicht riechen konnten. Sie wussten nicht, dass ihr Tod schon unter ihnen war, während sie da standen und grasten. Die vielen Rehe, beschützt von einem großen Bock. Sechs Enden. Schönes Tier. Aber mehr faszinierten mich die Rehe mit ihren runden Bäuchen. Manchmal konnte man sehen, wie sich das Leben darin bewegte. Es war faszinierend. Ich wollte wissen, wie es funktionierte. Ich wollte wissen, wie es aussah. Wollte es verstehen.
Oh, ich hatte mir das schon angeschaut. Nicht bei Rehen, aber… anderswo. Aber ich hatte es einfach nicht verstanden. Und ich war eben einfach neugierig. Vielleicht sollte ich einfach….?
Cinead zeigte auf einmal auf ein Reh am Rand. Kein trächtiges Tier. Nur fett. Viel fleisch. Augenscheinlich gesund, aber vielleicht schon etwas alt. Ein Wolf würde es aussuchen, um den Rest der Herde zu schonen. Natürliche Auslese. Ich musste mich eigentlich nicht darum kümmern, die Natur würde das von allein machen. Die trächtigen Rehe hingegen…?
Ich sah kurz zu Cinead, wie er den Bogen spannte. Fein. Dann dieses. Ich nahm einen Pfeil und tauchte ihn erst in eines der Tongefäße an meinem Rücken. Das war nicht wirklich notwendig, aber ich wollte es nicht so schnell, wie Cinead es wollte, und ich nahm an, er wollte das Ding essen. Also beschloss ich einen Kompromiss.
Ölig schwarz klebte die Substanz an der Pfeilspitze. Die Substanz war meine Spezialmischung. Sie lähmte das Opfer. Es konnte nicht mehr weglaufen, nicht mehr schreien. Wenn ich zuviel dosierte, nicht einmal mehr atmen. Das war dann bedauerlich. Im Grunde war das einzige, was sie noch konnten, wenn ich es richtig machte, blinzeln. Und zusehen. Deshalb mochte ich die Substanz sehr. Das beste an ihr aber war, dass man sie an die Finger bekommen, essen und trinken konnte, und es geschah nichts. Aber ein kleiner Kratzer, wenn sie ins Blut kam… da sah die Sache anders aus.

Ich legte den Pfeil auf und lauschte kurz auf den Wind. Ein kurzer Schuss, und die Herde stob auseinander, floh in den Wald, während mein Reh nur einen kurzen Hüpfer gemacht und dann zusammengebrochen war. Ich stieß meinen Bruder an und grinste, ehe ich zu dem Tier hinüber ging. Es atmete noch, aber flach. Die Augen blickten mich an.
“Schh…!“ machte ich und setzte mich auf die Fersen daneben, beobachtete fasziniert diesen Blick. Ja, ich hätte es schnell töten sollen, aber… der Drang war einfach gerade sehr stark. Und ab und zu wollte er etwas Tribut haben. Oh eigentlich wollte er sogar viel Tribut, aber ich wusste, wenn das Tier jetzt Schmerzen und Angst hätte, wäre sein Fleisch zäh und bitter, und Cinead würde mir Vorhaltungen machen. Ich war also sehr rücksichtsvoll ihm gegenüber, als ich den Pfeil entfernte und wieder einsteckte und anfing, das Reh zu streicheln und ihm leise zuzuflüstern. Wie schön es war. So lebendige Augen. So starke Beine. Ganz zarte Gestalt. Weiches Fell. Oh, ich machte ihm viele Komplimente. Eilig hatte ich es nicht. Ich berührte es und streichelte es, bis sein Atem wieder ruhig ging und seine Augen langsam schwer wurden, weil die Substanz mehr und mehr von dem Tier forderte und es müde machte. Oh ja, sehr müde. Und friedlich. Das war der zweite Nachteil davon, wenn man die Substanz lange wirken ließ, dann passierte es oft, dass die so getroffenen einschliefen. So auch das Reh.

Ich zog meine Messer heraus und Cinead zuliebe brachte ich es dann, als das Tier ruhig war, schnell und gezielt zuende. Beobachtete das kurze Aufflackern in den Augen, als das Licht erlosch, und fragte mich wieder einmal, wie das mit der Wiedergeburt genau funktionierte. Ich hatte so oft den Tod gesehen, aber nie, wie die Seele die Anderswelt wirklich betrat. Ich brauchte definitiv mehr Studien dazu.

Das Reh war dann auch schnell aufgebrochen und ausgeweidet. Ich besah mir jedes einzelne Stück genau und reihte sie säuberlich auf. Ja, dieses Reh war gesund. Keine Würmer, keine fauligen Stellen, im Magen sehr viel frisches Gras. Ein ordentlich großes Herz, das ich einfach ohne bestimmten Grund an den nächsten Baum nagelte und den Darm drumherum verteilte.
Irgendwann war aber auch das fertig, und ich wischte mir die Hände mit dem hohen Gras ab. “Sollen wir es bis zum Abend mitnehmen?“ fragte ich, da es etwas groß für uns zwei war. Aber wenn wir uns beeilten – auch wenn ich für die Verzögerung verantwortlich war – waren wir dann vielleicht bei der Quelle.
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Falke
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