All die schönen Momente, die dieser Tag hervorgebracht hatte, verblassten gerade zu einem fahlen Bild. Ich atmete mehrmals tief durch, denn ich spürte, dass ich im Begriff war, den Halt zu verlieren, und das auch noch vor den Augen der Sklaven! Meine Frau war inzwischen ebenfalls aus dem Wagen gestiegen und eilte zu mir. Sie drückte meine Hände und umarmte mich sanft. Wahrscheinlich hatte ich das gebraucht, damit wieder Firmitas und Gravitas - die Stärke und die Schwere in mich zurückkehrten. Jene Tugenden, die einen Mann zum Römer machten. Dies war nur eine weitere Prüfung, so sagte ich zu mir selbst, die ich bestehen musste. Ich würde nicht wie ein Schwächling einknicken, sondern hier und jetzt meine Würde bewahren.
Vorsichtig löste ich mich aus Priscas Umarmung und wandte mich an den neuen Vilicus.
"Danke, Midas", sagte ich mit fester Stimme.
"Domina Calida soll hier im Atrium aufgebahrt werden, sobald sie gesalbt und eingekleidet wurde."
Meine Frau wusste genau, was nun zu tun war und ergriff daher die Initiative. Sie wuchs in diesem Moment über sich hinaus. Ich nickte Prisca zustimmend zu.
"Ja, tu das bitte!" Mir war bewusst, dass die nächsten Tage sehr schwer werden würden. Doch in dieser großen Not konnte ich auf meine Frau zählen. Sie stand zu mir und unterstützte mich, so wie es sich für eine römische Matrona gehörte.
Nachdem jeder wusste, was er zu tun hatte, begab ich mich in das Tablinium und fand dort einen geöffneten
Brief vor. Zunächst wunderte ich mich, wer sich an meiner Post zu schaffen gemacht hatte. Er war von meinem Onkel Quintus aus Ostia, dem jüngeren Bruder meines Vaters. Ich begann ihn zu lesen und musste mich dann, ob des Inhalts, setzen.
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Ad
Marcus Sabinius Merula
Casa Sabinia
Iscalis
Britannia
Mein lieber Marcus,
Ich hoffe, dieser Brief findet dich in bester Gesundheit und
guter Stimmung. Ich schreibe dir heute mit einer Nachricht,
die sowohl überraschend als auch hoffnungsvoll ist.
Dein Vater, mein geliebter Bruder, hatte einen weiteren Sohn.
Ja, du hast richtig gelesen. Du hast einen Bruder. Sein Name
ist Lucius Sabinius Belenus. Er kam im Alter von fast
sechs Jahren zu deiner Tante Clara und mir
und ist in meinem Haus aufgewachsen.
Dein Vater wollte damals deine Mutter nicht brüskieren.
Inzwischen ist dein Bruder zu einem feinen jungen Mann
herangewachsen, voller Energie und Begeisterung, genau
wie dein Vater in seinenjungen Jahren.
Belenus hat immer davon geträumt, dich einmal zu treffen
und mehr über seinen Vater durch dich zu erfahren. Deshalb
hat er sich entschieden, nach Britannia zurückzukehren, um
seinen Bruder kennenzulernen. Wenn du diesen Brief erhältst,
ist er bereits aufdem Weg zu dir.
Ich weiß, dass diese Nachricht überraschend für dich sein mag,
aber ich hoffe, dass du deinen Bruder mit offenen Armen und
einem offenen Herzen empfangen wirst. Ich bin sicher, dass ihr
beide gut miteinander auskommen werdet, wenn ihr euch erst
einmal kennengelernt habt.
Mögen die Unsterblichen stets über dich und die Deinen wachen!
Vale bene,
Dein Onkel Quintus
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