Zitierte er gerade
Catull? Ja, ganz sicher tat er das! Prisca erkannte die Stelle wieder und war ganz hingerissen davon, dass er den Dichter kannte und sogar rezitieren konnte. Naja, ungefähr die eine Sekunde lang zumindest, bis sie erkannte, welches Gedicht er rezitierte, und was noch alles darin stand. Es besang den Wert der Jungfrau, die sich bis zur Hochzeitsnacht aufgespart hatte, sich nun aber nicht gegen ihren Ehemann wehren sollte. War das nur einfach etwas, was ihm gerade in den Sinn gekommen war, oder war es eine Anspielung? Prisca konnte sich nicht vorstellen, dass es eine war, weder dafür, dass er an ihrer Jungfernschaft zweifelte – hoffte sie zumindest sehr! - und erst recht nicht dafür, dass er auf eine Hochzeit anspielte. Sie hatten sich ja gerade erst getroffen. Außerdem war sie eben Prisca. Pferdegesicht. Das lange, dürre Elend. Nein, das war nur einfach eine Zeile.
“Mein Bruder hat die Bibliothek verkauft, und meine Wohnung ist nicht so groß für eine ordentliche Bibliothek“, gestand sie kleinlaut und überlegte kurz, ob sie es ihm anvertrauen sollte.
“Aber die Lieder von Sappho hab ich noch. Aber du darfst es nicht meinem Bruder verraten, denn eigentlich wollte er die auch verkaufen.“ Warum nur erzählte sie ihm das? Prisca wusste es nicht, aber irgendwie wollte sie ihm irgendwas von sich verraten, schon allein, damit das Gespräch nicht aufhörte. Es war so schön, wie er sie immer wieder ansah. Und er kannte Catull!
“Von Lutetia weiß ich nicht mehr viel. Wir sind vor zehn Jahren ungefähr nach Londinium gezogen. Also nachdem alles schon wieder im Aufbau und sicher war“, erzählte sie und spielte damit auf den Aufstand der Iscener an, bei dem die Stadt schwer verwüstet worden war. Ganz fertig war Londinium wie alle Städte Britanniens natürlich nicht, aber so weit, dass man von dem Aufstand dort nichts mehr merkte.
“Ich erinnere mich nur noch an die Überfahrt mit dem Schiff, weil ich die so schrecklich gefunden hatte. Aber von Lutetia selber hab ich nur noch ganz vage Erinnerungen.“ Sie erinnerte sich an Sonnenschein und Sommerblumen, aber mehr auch nicht wirklich.
Und dann erzählte er von seinem Bein, und Prisca wurde immer blasser und stiller.
“Oh wie schrecklich“, wisperte sie, als er erzählte, was mit ihm passiert war.
“Dann hast du großes Glück, dass deine Kameraden dich gerettet und zu einem Medicus gebracht haben. Du hättest tot sein können!“ sagte sie voller Sorge in der Stimme. Und er saß dabei hier so ganz ruhig und gefasst! Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie es wäre, wenn ihr so etwas schreckliches widerfahren wäre.