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Fuchs und Rabe - Wer bist du?
02-17-2023, 08:33 PM,
Beitrag #10
RE: Fuchs und Rabe - Wer bist du?
Ich blieb noch lange sitzen, nachdem sie gegangen war, und hörte dem Murmeln des Wassers zu. Ich sollte wahrscheinlich aufstehen und gehen, aber ich konnte es im Moment nicht. Ich fühlte mich, als würde ich niedergedrückt werden, hier gegen diesen Baum, während um mich herum der Nebel langsam höher stieg und die Temperatur wieder fiel. Es war eine unheimliche Stille, die sich über die Welt legte, aber sie passte gerade zu meiner Stimmung.

Warum, fragte ich mich. Warum musste sie meine Schwester sein? Einmal passierte es, dass ein Mädchen mich wirklich berührte, nein, mich bis ins Mark erschütterte und die ganze Welt für mich zum Stillstand brachte, einmal fühlte ich so wie in den Liedern, die ich sonst gerne sang, wie in den Geschichten, die man abends am Feuer erzählte, und dann war sie für mich unerreichbar. Schlimmer noch, sie fühlte nicht das gleiche. Würde sie so fühlen, würde sie mich… Nein, ich wollte das Wort nicht denken, weil das bedeutete, dass ich so fühlte. Und ehrlicherweise war es dafür viel zu früh. Wir kannten uns ja kaum. Nein, eigentlich kennen wir uns gar nicht. Das wurde mir wieder bewusst, auch wenn ich es mir nun schon oft gesagt hatte, seit ich sie in der Hütte gesehen hatte. Warum also fühlte ich so? Ausgerechnet für sie?
Ich hatte schon viele Mädchen geküsst. Mit einigen hatte ich noch viel mehr gemacht. Und ja, es war immer schön gewesen. Ich hatte es genossen, hatte sie sogar gern gehabt, allesamt. Keinem hatte ich etwas vorgemacht oder gesagt, es wäre mehr, keiner hatte ich irgendwas versprochen. Ich wollte nicht unehrlich sein, und wenn ich es nicht wegen dem, was ich war, musste, war ich es auch nicht. Schon gar nicht bei sowas. Aber dieses Mal fühlte es sich anders an. Es war viel weniger passiert als bei anderen, wir kannten uns nicht so lange, hatten kaum miteinander gesprochen. Es gab so viel, was dagegen sprach, selbst schon bevor ich gewusst hatte, wer sie war. Und trotzdem war da dieses brennende Gefühl in mir, dieses Ziehen bis tief in meine Eingeweide, das mich zu ihr bringen wollte und das meine ganze Welt nicht nur stillstehen ließ, sondern komplett in ihre Einzelteile zerlegte. Und ich verstand einfach nicht, warum ich so fühlte, weshalb das geschah, wenn es doch so sinnlos war. Wenn sie wenigstens ein bisschen auch so fühlen würde, dann könnte ich mir wenigstens einen Sinn dafür zurechtlegen, könnte sagen, dass es vielleicht von den Göttern doch bestimmt war, dass es eine Bedeutung hatte und es vielleicht, ja ganz vielleicht doch noch Hoffnung gab. Aber so, wie es jetzt war? Da gab es nichts, nur dieses Gefühl der Dunkelheit in mir, das mich aufzufressen drohte.
Ich lehnte mich gegen den Baum und schloss für einen Moment die Augen.

Der Nebel stieg höher, bis die ganze Welt in unwirkliches Licht gehüllt war. Alle Geräusche waren gedämpft, bis schließlich sogar das Murmeln des Wassers verstummte. Die Luft war kalt und feucht und unwirklich. Trotzdem blieb ich weiter sitzen. Mir war nicht einmal wirklich kalt. Unwohl, ja, elend, ja, aber nicht kalt.
Gedämpfte Geräusche drangen durch den Nebel, die ich erst nicht zuordnen konnte. Es dauerte ein wenig, bis ich erkannte, dass es das regelmäßige Tapp-Tapp-Tapp eines großen Tieres war. Im Nebel bildete sich ein großer Schatten. Wahrscheinlich mein Pferd, das sich fragte, wo ich abgeblieben war. Ich verdrehte die Augen und wollte mich erheben, als ich merkte, dass es nicht mein Pferd war, sondern ein Hirsch. Ein ziemlich großer mit ausladendem Geweih. Seine ganze Präsenz strahlte Macht aus. Er war der König des Waldes, erhaben und unantastbar, und ließ sich nicht im Mindesten davon beeindrucken, dass ich hier unter der Weide saß. Nein, er schaute mich direkt an. Lange. Und ein seltsames Gefühl des Erkennens stieg in mir hoch, das Erschrecken wich, als er sich verwandelte und da, wo eben noch der Hirsch gestanden hatte auf einmal ein junger Mann stand, nur spärlich mit Fell bekleidet. Nein, nicht bekleidet,
bewachsen. Und auf seinem Kopf spross noch immer das ausladende Geweih. Und ich wusste, er war der Herr der wilden Dinge, derjenige, dessen Namen wir nicht nannten, der Vater allen Lebens, Herr des Verlangens, König der Wälder und alles, was darin lebte. Und starb. Anfang und Ende. Tod und Wiedergeburt. Kreislauf der Natur.

Und er sah mich.


[Bild: hirsch18ydzn.gif]

Mit einem heiseren “Huargh!“ schreckte ich auf und sah mich um. Der Nebel hatte sich gelichtet und die Dunkelheit hatte sich über das Land gesenkt. Heute stand kein Mond am Himmel, dafür aber leuchteten die Sterne umso heller. Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und versuchte so, die letzten Fetzen des Traumes von mir zu ziehen.

Es war viel zu spät. Ich musste eingenickt sein. Und ich war vollkommen durchgefroren. Verdammt. Ächzend erhob ich mich und streckte die steifen Glieder. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte noch nie so etwas verrücktes geträumt, und ich hoffte schwer, dass es bei diesem einen Mal bleiben würde.

Und doch zeigte es mir, dass ich jetzt ein paar Dinge ändern sollte, ehe es schlimmer wurde. Raven hatte recht, die Nähe, die ich zu ihr suchte, war nicht gut. Ich sollte erwachsener sein. Und deshalb stand auch mein Entschluss fest, als ich zurück zum Dorf ging, um mein Pferd zu suchen: Ich würde aus der Taverne ausziehen, erst einmal zu Alan in den Stall, und dann weitersehen.
[Bild: 1_22_10_22_8_56_52.png]
Falke
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