RE: Auf den Schwingen der Gaviola
Als meine Schwester so mit ihrem kupferfarbenem Haar und grünäugig wie die See selbst auf mich zutrat, fiel mir das erste Mal auf, wie erwachsen sie geworden war. Von Schönheit und Haltung brauchte sie sich vor keiner Hauptstädterin verstecken. Ich schaute etwas düster drein, das galt nicht ihr, sondern dem Gedanken, dass die Männer sie jetzt ansehen würden.
Am liebsten hätte ich den Matrosen und Passagieren zugerufen: Heda, Blicke zu Boden, doch ich konnte mich ja schlecht mit einer ganzen Schiffsbesatzung prügeln. Ich nahm aber fest Gerwinas Hand, damit jeder wusste, dass Gabinia Clara einen großen Bruder hatte, der auf sie aufpasste.
Ich lächelte ihr zu und deutete in die Ferne: "Dort im Westen die berühmten weißen Felsen, kannst du schon sehen?"
Da die Wellen rauschten, neigte ich den Kopf, um Gerwinas Worte zu verstehen. Sie schien sich auf unser neues Leben genauso zu freuen wie ich:
"Ja, du hast Recht damit, dass wir für unsere Habe einen Wagen mieten müssen. Und dann werden wir uns erst einmal eine ordentliche Unterkunft in der Stadt suchen."
In jedem Hafen wohnten alte Bekannte meines Vaters, doch Iscalis lag nicht am Meer. So hatte unsere Familie dort keine Gastfreunde.
All das würde ins Geld gehen, und Bargeld hatten wir nur wenig:
"Ich bin gespannt auf unser Land. Es wird bestimmt fruchtbar sein, denn unser verehrter Kaiser sorgt gut für seine Veteranen. Zunächst einmal müssen wir mit unserer Besitzurkunde jedoch zum Statthalter, damit uns nachgewiesen wird, welches denn unser Grundstück ist. Das bedeutet, dass ich eine Toga anziehen werde und....",
ich griff in mein langes germanisches Haar und hielt es mir nach hinten zurück. Bei solchen Anlässen knotete ich es im Nacken. Die Römer trugen ihr Haar kurz, doch bei den Chatten wurden nur Sklaven geschoren, und ein freier Mann war stolz auf seine Haarpracht. In alter Zeit durften die Knaben ihr Haar überhaupt nur schneiden, wenn sie ihren ersten Feind getötet hatten. Ich hatte noch nie jemanden getötet, und würden wir noch nach den alten Stammessitten leben, würde mir das Haar bis zu den Füßen reichen. All das wusste Gerwina aber auch:
"Wir sind römische Bürger und werden in Iscalis auch so auftreten." Das sagte ich vorsichtshalber, denn ich kannte meine Schwester, die durchaus ihren eigenen Kopf hatte.
Von einer Römerin wurde erwartet, dass sie den Mund hielt, wenn Männer redeten, aber unsere Mutter war in ihrer Jugend Wodan geweiht gewesen und hatte auch Gerwina so erzogen, dass sie nicht weniger wert war als ein Mann.
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