Bibliothek | Letzte Erinnerungen
Die Tage waren kalt und trüb. Immer war Seneca zu kalt und zu dunkel, und in den Momenten, in denen er sich erinnerte, wie man sprach, beschwerte er sich darüber. Ansonsten saß er in der Bibliothek, schaute auf die vielen Schriftrollen dort, die ihm irgendwie Trost spendeten und mit einer stillen Sehnsucht erfüllten. Aber er wusste nicht mehr, wieso. Es war irgendetwas wichtiges, daran erinnerte er sich manchmal, aber was es war, das war weg. Wie das meiste einfach nicht mehr da war.
Ab und zu kamen Bilder, Namen und andere Erinnerungen, meist ungebeten. Manchmal weinte er, ohne sich daran zu erinnern, was er soeben noch gedacht und was ihn mit diesem Schmerz erfüllt hatte. Und manchmal ärgerte er sich einfach nur über alles, verfluchte die Götter, verfluchte das Haus, verfluchte sich selbst für seine Schwäche.
An diesem Tag saß er ruhig da und besah sich die Schriftrollen. Er hatte ein Buch schreiben wollen, erinnerte er sich. Aber worüber, wusste er nicht mehr. Aber ohnehin, es blieb keine Zeit mehr. Mors Letus wartete schon in der Ecke, stumm die Flügel gefaltet, als Schatten. Nein, es blieb keine Zeit mehr.
Seneca holte tief Luft und dachte über sein Leben nach. Über das, an was er sich davon erinnerte. Neben ihm saß ein Mädchen, eine Sklaven. Das Ziel all seiner Schmähungen und der Lichtblick jedes Tages, wenn sie ihm zu Hilfe kam, ihn tröstete und ihn zudeckte. Er wusste ihren Namen nicht mehr, sofern er ihn je gewusst hatte.
“Ich bin müde“, sagte er nur, und sofort half sie ihm geduldig und langsam, aus dem Korbsessel aufzustehen und die paar Schritte auf die sehr bequeme Liege zu machen. Sie half ihm dabei, die Beine auf die Liege zu bekommen, und deckte ihn sanft zu. Sie war ein gutes Mädchen. Zumindest heute. Zum letzten Mal heute. Vielleicht.
Er legte seinen Kopf auf die Kissen und dachte noch einmal nach, ob er etwas vergessen hatte.
Kurz schreckte er auf und sah das Mädchen mit großen Augen an. “Sag meiner Tertia, dass mir das mit ihrem Baby leid tut. Ich weiß, das nützt jetzt auch nichts mehr, aber es ging nicht anders. Und ich hoffe, dass sie mir das verzeiht.“ Es war ihm wichtig, und die Sklavin nickte freundlich, als sie noch einmal die Decke gerade zog.
Gut, Seneca war beruhigt und nahm noch einen bewussten, tiefen Atemzug, ehe er die Augen schloss und schließlich einschlief.
Und nicht mehr erwachte.
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