RE: Empfang der Verlobten
Entweder hatte Orestilla keinen Hunger, oder sie traute sich nicht, ihrem Hunger Ausdruck zu verleihen. Leander beschloss, es ihr etwas einfacher zu machen und ließ sich etwas Brot, ein Ei und ein wenig Schinken auflegen und fing an, nebenbei in kleinen Happen zu essen.
Bei ihrer Erzählung über ihren Vater wurde Leander ein klein wenig misstrauisch. Er hoffte, dass sie nicht von ihm verlangte, dass er sich jeder ihrer Launen beugte. Er war gern im Rahmen des Vernünftigen bereit, sie zu unterstützen in ihren Wünschen, aber er war sicher niemand, der unsinnige Wünsche ohne Rückfragen unterstützte oder sich Launen hingab. Grenzen waren wichtig. Nicht, um andere Personen zu gängeln und auch nicht mit Gewalt, aber sie gaben Menschen auch Sicherheit. Einen Rahmen, innerhalb dessen sie in Sicherheit wachsen konnten. Einen Halt in schwierigen Zeiten. Wer immer nur seinen Launen folgte, war wie ein Schiff bei Sturm, getrieben von einem Ort zum anderen, ohne Ziel vor Augen und den Gezeiten schutzlos ausgeliefert. Das fand er nicht im mindesten erstrebenswert.
Da war auch die frage etwas verwirrend, ob Seneca ihm gegenüber Zuneigung empfand oder nicht. Leander unterbrach sein Mahl und sah etwas verwirrt auf. “Ich strebte nie nach gezeigter Zuneigung oder geäußertem Stolz. Ich weiß, dass ich die Dinge, die ich gemacht habe, gut gemacht habe, völlig unabhängig von der Zuneigung anderer, insbesondere der von Caius Plautius Seneca. Sich von der Zuneigung anderer abhängig zu machen, erscheint mir als recht sicherer Weg, unglücklich zu sein. Und würde Caius Plautius Seneca mich für ungeeignet halten, hätte er mich denke ich nicht freigelassen und als Erben benannt.“
Vermutlich war das nichts, was eine junge Dame mit romantischen Vorstellungen so hören wollte. Allerdings konnte Leander da auch nicht lügen. Und abgesehen von jungen Damen wüsste er auch niemanden, der sich ernsthaft darum sorgte, ob andere ihn mögen könnte. Nach Anerkennung zu streben war in gewisser Weise recht unrömisch. Daher hatte er bis zu eben jener Frage noch nicht einmal darüber nachgedacht.
Daher war es für ihn auch nicht so schwer, jetzt mitzuerleben, wie Seneca langsam aber sicher starb. “Er hatte ein sehr erfülltes Leben, dessen Erinnerung ich aufrecht erhalten werde. Ich denke, er ist durchaus zufrieden mit dem, was er erreicht hat. Lediglich, dass er sein Buch nicht selbst beenden kann, grämt ihn mehr, als er zugeben möchte. Zumindest erweckt er an seinen guten tagen diesen Anschein.“ An den schlechten tagen erinnerte er sich nicht immer, wer er war oder wer Leander war. Da gab es dringlichere Probleme als Rechtsschriften.
Das Thema schien hinreichend erörtert, weshalb Leander sein Essen wieder aufnahm und kleine Stücke Brot vom Teller zupfte. Und wie er vermutet hatte, wollte Orestilla Leander behalten. “Ich werde den Absatz entsprechend anpassen“, meinte er nur freundlich. Das Gespräch über akzeptable Sexpraktiken mit diesem Sklaven konnte warten, im Moment würde so viel Ehrlichkeit sie womöglich überfordern.
Als sie fragte, wann er heiraten wollte, weil sie erst noch weben wollte, war Leander dann aber doch noch einmal etwas überrascht. Da sie sich entschieden hatten, auf Feier und damit auf Zeremoniell zu verzichten, hatte er angenommen, dass auch solche Dinge wie das Weben einer Tunica recta entfallen konnten. Aber offenbar nicht.
“Ich wollte gerne möglichst bald in die Ehe eintreten. Angesichts deiner momentanen Situation fand ich das für uns beide als vorteilhaft.“ Er sah Orestilla freundlich an. “Daher ist eher die Frage, wie lange du zum Weben benötigst, wenn du das gerne tun möchtest. Ich persönlich glaube dir deine Fertigkeiten im Weben auch ohne selbstgewebte Tunika.“
|