RE: Hundert Jahre Einsamkeit: Am Rande des Brunnenfestes
Ach, mein guter Nicander! Mit allen Mitteln versuchte er, mich noch ein wenig länger auf diesem Fest zu halten. Er wollte mich mit Essen locken – mit Grillfleisch, Kuchen und Saft und sogar Wein. Aus seinem Mund klang das alles wie Poesie oder wie ein Theaterstück. Inzwischen fragte ich mich wirklich, ob er sich hier in diesem Kaff wohlfühlte. Zwar lebte er hier unter wesentlich besseren Bedingungen als in Londinium, doch er konnte kein Theater mehr auf der Straße spielen und hatte seine kleine Freundin verloren, die Papa mir damals bei unserer Ankunft gekauft hatte. Cassia war zwar immer noch hier in Iscalis, wie ich gesehen hatte, doch lebte sie nun in einem anderen Haus und unter einer anderen Herrschaft.
"Eigentlich habe ich gar keinen Hunger und den kühlen Quelltrunk gibt es auch zu Hause. Und Wein? Den habe ich noch nie getrunken! Und ich glaube, ich sollte heute auch nicht damit anfangen. Also am besten, wir gehen jetzt!" Wie kam er nur darauf, ich könnte Wein trinken wollen? Seltsam, diese Griechen! Also erhob ich mich von meinem schattigen Plätzchen, das mir der gute Nicander zuvor gesucht hatte. Ich war wirklich entschlossen, zurück zur Casa Norbana zu gehen.
Doch dann kam mir der Gedanke, dass Nicander womöglich noch bleiben wollte, weil er sich gerne mit Cassia unterhalten wollte. Natürlich wagte er nicht, mich danach zu fragen. Aber ehe ich etwas sagen konnte, stand plötzlich dieser großgewachsene ältere Herr vor mir und räusperte sich. Zwar war er gewiss noch nicht so alt wie mein Vater, an seinem geplegten Bert aber hatte er bereits einige graue Haare. Er fragte, ob ich meine Verwandten aus den Augen verloren hätte und ob er mich nach Hause geleiten dürfte. Ich sah ganz verdutzt zu ihm auf und brauchte einen Moment, bis ich meine Sprache wiederfand.
"Meine Verwandten? Aus den Augen? Das kann man wohl sagen!" entgegnete ich ihm. Aber im nächsten Moment schien es mir schon wieder dumm, das gesagt zu haben. Schließlich wollte ich nicht wildfremde Leute mit meinen Problemen langweilen. Aber dann dachte ich mir, dass es doch eine nette Idee sein könnte, wenn dieser freundliche Mann mich nach Hause begleiten würde. Dann würden alle, die mich noch für ein Kind hielten, endlich sehen, dass ich doch schon fast eine junge Frau war.
"Aber gerne doch!", rief ich und warf einen kurzen, aber schelmischen Blick zu dem guten Nicander. "Mein Name ist übrigens Norbana Orestilla. Ich bin die Tochter des großen Gelehrten Numerius Norbanus Paullus." Natürlich übertrieb ich wieder maßlos, denn wahrscheinlich kannte meinen Vater kein Schwein. "Und wie ist dein werter Name?" Schließlich wollte ich ja wissen, wem ich mich anvertraute.
Vormund: C. Numonius Pusinnus, Duumvir von Iscalis (NSC)
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