RE: Hundert Jahre Einsamkeit: Am Rande des Brunnenfestes
Ein Grund dafür, dass ich nicht abhauen konnte, war Cassia, die ich hätte zurücklassen müssen. Aber ein zweiter Grund war, wenn ich aufrichtig war, die junge Domina Orestilla. Sie war in meinen Augen sanft und gut, und sie hätte niemals die Herzlosigkeit besessen, ihre kleine Freundin auf dem Sklavenmarkt feilbieten zu lassen. Außerdem hatte Norbana Orestilla als Einzige in der Casa Norbana wirklich ein Ohr für Poesie.
Wäre ich noch als ein freier Straßenkünstler unterwegs gewesen, hätte ich mit ihr flirten und ihr Komplimente machen können. Doch als ein Sklave ihres Haushalts musste ich mir ein anderes Benehmen zulegen. Das war nicht so schwierig - ich hatte ja in einigen Theaterstücken schon die Rolle eines Sklaven übernommen.
Domina Orestilla fühlte sich sichtlich unwohl. Sie kannte noch niemanden in Iscalis, und ihr Vater und dessen Gehilfe hatten sie im Städtchen alleine zurückgelassen, daher war sie alleine hier, außer mir selbstverständlich, aber ich zählte eher zum Inventar.
Ja, Iscalis war ein Ort in der Provinz, kein Viertel von Londinium, wie ich zunächst gehofft hatte.
Ich suchte ein schattiges Plätzchen mit einer Steinbank aus, die in der Nähe einer anderen Bank stand, auf der sich zwei römische Matronen angeregt unterhielten, und legte ein gepolstertes Kissen hin. Das Essen, das zur Feier der Brunneneröffnung gestiftet worden war, duftete gar köstlich:
" Domina Orestilla, du bist doch gerade erst angekommen. Möchtest du nicht ein wenig auf diesem bequemen Platz verweilen? Dein Diener holt Dir raschen Schrittes Labsal für Kehle und Magen. Es gibt....", ich spähte danach, was die anderen Leute aßen und hatte auch schon ihre Gespräche etwas belauscht:
" Ich hörte vom frischem Brot, von Grillfleisch und Würstchen reden. Und auch von honigwürzigen vielerlei Kuchen. Die blonde edle Dame da drüben hat gerade erwähnt, dass aus dem Brunnen selbst nur das Getränk des Bacchus strömt, dem Unsterblichen zum Lob. Doch bestimmt gibt es sowohl kühlen Quelltrunk als auch den süßen Saft, den die göttliche Ceres aus den Trauben schenkt, bevor er sich in Rausch verwandelt"
Als wohlerzogene römische Jungfrau hätte Norbana Orestilla nie Wein getrunken, zumindest nicht in der Öffentlichkeit.
Den Blick gesenkt wartete ich aufmerksam auf ihre Anweisungen. Wenn die Herrin dennoch schon gehen wollte, dann war es ihre Entscheidung. Doch ich hoffte sehr, dass sie etwas Vergnügen am Fest finden würde und vielleicht andere junge Damen kennen lerne. Sie lebte sehr zurückgezogen, fast schon einsam inmitten ihrer Dienerschaft.
Und ich hoffte, dass ich ihr eine Dichtung über die Grazien, nach denen der neue Brunnen benannt wurde, aufsagen durfte. Nur in die Poesie konnte ich mein Herz legen.
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