RE: [Italia|Misenum] Unheil am Horizont
Den restlichen Tag verbrachte Plinius Minor mit seinen Studien. Er nahm ein ausgedehntes Bad, um den sommerlichen Schweiß abzuwaschen, aß mit seiner Mutter zu Abend und legte sich dann irgendwann schlafen. Die letzten Wochen und Monate hatte die Erbe immer wieder leicht gebebt, so dass das nichts besonderes war, aber in dieser Nacht wurden die Beben mit einem Mal so heftig, dass er davon geweckt wurde und halb aus dem Bett fiel. Er wollte sich gerade hochrappeln und nach siener Mutter sehen, als diese auch schon mit zerzaustem Haar und panischem Gesichtsausdruck in der Tür stand.
“Oh Götter, ich glaube, das Haus stürzt ein!“ sagte sie ängstlich. “Ich wollte dich wecken...“ Sie stand unter Schock.
“Ich bin wach, Mutter! Ich wollte auch gerade zu dir. Komm, raus hier, ehe wir wirklich noch begraben werden!“ drängte er sie nach draußen.
Und so suchten sie sich ihren Weg nach draußen mit den ganzen anderen Bewohnern der Villa und setzten sich einfach in den Hof, während die Erde immer wieder wackelte, mit Blick auf das Meer und das Unheil, was von dort zu kommen schien. Da Plinius Minor nichts besseres zu tun hatte und sich nach einer Weile doch zu langweilen begann, ließ er sich von einem Sklaven ein Buch von Titus Livius bringen und fing wieder an, zu lesen.
Um die Zeit des Sonnenaufgangs herum kam ein Freund von Plinius Maior, der sich um seinen freund und dessen Familie sorgte. Als er Plinius Minor da sitzen und lesen sah, war er außer sich vor Wut. “Du nichtsnutziger Bengel, wie kannst du jetzt lesen? Und du, Plinia Marcella?! Willst du deinem Sohn das einfach so durchgehen lassen?“ Er schimpfte noch mehr, und Plinius’ Mutter versuchte, ihn zu beschwichtigen, während Plinius selbst so tat, als höre er die Gemeinheiten nicht und nun erst recht weiterlas.
Doch mit einem Mal kam wieder ein heftigeres Erdbeben und alle schrien wie im Chor erschrocken auf. Auch wenn die Gruppe im Freien war, kam doch die Furcht auf, dass einstürzende Gebäude so unglücklich fallen könnten, dass sie zur Gefahr würden, also beschlossen sie, auch unter beherztem Rat des spanischen Freundes, doch besser die Stadt ganz zu verlassen. Als sie hinaus auf die Straßen Misenums traten, sahen sie, dass mehrere ihrer Nachbarn zu demselben Entschluss gekommen waren, und schon bald bildete sich ein ganzer Zug an Leuten, die versuchten, aus der Stadt zu gelangen. Aber noch wollten Plinia Marcella und Plinius Minor noch nicht ganz aus Misenum gehen, denn die Sorge um Plinius Maior wuchs mit jedem weiteren Moment.
Immer wieder erschütterten Erdstöße den Boden. Wagen, die eigentlich auf geradem Boden standen, wanderten umher. Das Meer zog sich so schnell vom Strand zurück, dass etliche Fische sich plötzlich an Land wiederfanden. Und von Osten her zog eine tiefschwarze Wolke immer näher heran, kreuz und quer durchsetzt von zuckenden Schlangenlinien, die wie Blitze aussahen, nur sehr viel größer.
Der spanische Freund wurde nervöser und drängte Plinia Marcella und ihren Sohn zur Eile. “Wenn Dein Bruder, wenn Dein Onkel noch lebt, so will er euch gerettet wissen. Ist er tot, so wäre es sein Wunsch, ihr möget in Sicherheit sein. Wieso zögert ihr, euch zu retten?“
Aber Plinia Marcella und Plinius Minor wollten nicht zu weit fort aus Misenum. “Sollen wir wie Feiglinge weglaufen, während mein Onkel noch auf See ist? Wir können doch nicht einfach fliehen und weggehen, solange noch unsicher ist, ob er noch lebt!“ ereiferte sich Plinius Minor, dem es feige erschien, wegzulaufen, wenn sein Onkel gerade losgezogen war, in diesen schlimmen Sturm hinein, um die Leute an der Küste zu retten.
“Ihr seid verrückt! Ihr seid vollkommen verrückt“ sprach der Freund und wich kopfschüttelnd zurück. Und dann drehte er sich um und lief, so schnell er konnte, sich einen Weg aus der Stadt suchend.
Plinia Marcella und Plinius Minor blieben zurück und suchten nach einer vermeintlich sicheren Stelle in dem Chaos, das über die Stadt hereingebrochen war. Aber erst, als die schwarze Wolke immer näher kam und sich schließlich sehr rasch über Misenum senkte, bekamen sie es mit der Angst zu tun.
“Caius! Ich glaube, der Freund deines Onkels hatte recht. Wir hätten fliehen sollen, als wir es noch konnten“, meinte Plinia Marcella bestürzt.
“Jetzt ist es zu spät, sich über solche Dinge Gedanken zu machen.“
“Aber es ist noch nicht zu spät für dich! Du bist jung und gesund! Du findest einen Weg hier raus! Bitte, bitte geh, Caius! Bring dich in Sicherheit!“
“Und was ist mit dir?“
“Ich bin schon alt und krank. Lass mich hier zurück und rette dich, Kind! Bitte!“
“Nein! Ich lasse dich nicht zurück!“
“Bitte, Caius, hör mir zu! Mit mir stirbst du hier! Ich kann nicht zulassen, dass du wegen mir stirbst! Bitte..!“
“Genug davon! Ich lasse dich nicht allein Mama! Niemals! Und jetzt komm, weg von der Hauptstraße. Hier trampeln uns die Leute noch tot“ sprach er energisch und zog sie mit sich, schneller als sie eigentlich kann. Immer wieder musste er sie auffangen und stützen, damit sie nicht fiel, während sie ihn beständig weiter beschwor, ohne sie zu gehen und sich zu retten. Aber stur hielt er ihre Hand und zerrte sie weiter, durch den einsetzenden Ascheregen hindurch, bis sie schließlich eine Stelle fanden, die ihnen sicher erschien.
Und dann kam die Dunkelheit über sie alle. Nicht wie eine mondlose Nacht, sondern wie in einem geschlossenen Raum wenn man das Licht gelöscht hat. Man hörte nun die Frauen heulen, die Kinder wimmern und die Männer schreien; manche schrien nach ihren Eltern, andere nach ihren Kindern oder ihren Ehegatten. Manche erkannten sich an den Stimmen, andere bejammerten ihr Unglück, weitere das ihrer Angehörigen und wieder andere sehnten sich aus Furcht vor dem Tode nach dem Tode selber. Viele erhoben die Hände betend zu den Göttern, andere sagten es gebe keine Götter mehr und die letzte ewige Nacht sei hereingebrochen. Auch gab es Leute, die mit erfundenen Schreckensgeschichten die Gefahr überspitzten. Einige behaupteten, in Misenum sei dies und jenes stehe in Flammen, sei eingestürzt: alles falsch, und doch glaubte man alles.
Es hellte ein wenig auf, doch war es nicht der Tag, sondern ein Vorbote eines nahenden Feuers. Doch es blieb in einiger Entfernung stehen; dann wurde es wieder dunkel, es fiel dicht und schwer die Asche. Oft mussten Plinia Marcella und Plinius Minor aufstehen und sie abschütteln, sonst wären sie unter ihrer Last erdrückt worden. Plinius Minor war sich sicher, dass dies ihr Ende wäre und sie unter dieser Asche alle den Tod finden würden.
Endlich verging der Rauch in eine Art Nebel oder Dampf und es wurde wirklich Tag, sogar die Sonne kam heraus, doch nur so fahl wie bei einer Sonnenfinsternis. In den verängstigten Augen zeigte sich alles verwandelt und von einer Ascheschicht wie Schnee bedeckt.
Die beiden kehrten nach Misenum zurück, versuchten die Villa wieder von Asche zu befreien und sich selbst ebenso wenigstens vom schlimmsten Schmutz zu reinigen, so gut es eben ging. Sie verbrachten eine unruhige Nacht, immer zwischen Furcht und Hoffnung schwankend. Die Furcht überwog, denn die Erdstöße gingen weiter und viele, wie von Sinnen von schreckenerregenden Prophezeiungen, täuschten sich wie auch andere über ihr eigenes oder fremdes Unglück. Und dennoch brachten es die beiden nicht über sich, die Villa und Misenum wirklich zu verlassen. Nicht ehe sie Nachricht erhalten würden, wie es dem geliebten Onkel und Bruder ginge.
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