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Normale Version: Aillte an Ual
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Die Grenze zum Totenreich war hier dünn, sagte man. Früher, in alten Zeiten, hatte man diesen Ort gemieden und nur selten Opfer dargebracht, wenn diese Grenze in besonderen Nächten – wie Samhain – durchbrochen zu werden drohte. Die Aillte an Ual waren kein Ort für die Sterblichen.
Heute freilich glaubte niemand mehr daran. Die Klippen wurden immer noch nicht oft besucht. Das lag aber vor allem daran, dass es einen Umweg bedeutet hätte für jeden, der von Cheddar nach Iscalis reiste. Und auch heute war niemand hier. Nun, fast niemand.
Calum kannte den Weg hier herauf inzwischen ziemlich gut. Selbst im strömenden Regen rutschte er auf den schmalen Felspfaden nicht mehr aus. Cathbad hätte ihm davon abgeraten, diesen düsteren Ort aufzusuchen. Doch dann wiederum hatte Cathbad im Allgemeinen nicht sehr oft recht behalten. Und als der Junge oben angekommen war, war der Ort schon gar nicht mehr düster. Es war ein herrlicher Anblick über die Wälder unter den Klippen und das ferne Cheddar, auch wenn die Welt in dem strömenden Regen beinahe zu verschwinden schien. Heute war der Schleier dünn.

Calum kam gerade von dem Treffen in Cheddar und seine Gedanken kreisten um das Gesagte in der kleinen Hütte. Es fühlte sich alles so furchtbar weit weg an. Er wusste nicht mehr, ob er sich überhaupt noch Falke nennen konnte. Aber vielleicht lag es ja daran. Er wusste schon lange, dass Cathbad ihn nicht mehr für wertvoll hielt. Wieso sonst hätte er Raven dazu geholt? Von den Plänen für Mine war er nicht einmal informiert gewesen.
Raven… Der Gedanke an sie machte ihn so wütend. Wie lange hatte er in der Gosse von Iscalis verbracht? Sich an Verbrecher und anderen Abschaum herangemacht, um sein Netzwerk auszuweiten? All die Arbeit, die Jahre der Vorbereitung… Alles, damit Raven sich ins gemachte Nest setzen konnte. Doch was ihn wirklich fertig gemacht hatte, war diese verdammte Prophezeiung und das Verschweigen dieser. Nur um jenen Bruder zu schützen, von dem er wusste, dass er ihn immer für seine Schwäche verachtet hatte. Und dieser schimpfte den Druiden, der sie verfasst hatte, noch einen Lügner und zog das Opfer Caradocs in den Schmutz.
Er konnte nicht mehr. Es war alles zu viel. Nicht einmal auf seiner Arbeit bei Cynric konnte er sich konzentrieren und war immerzu gefangen zwischen der Angst und der Traurigkeit. Er wollte einfach nur ein normales Leben. Vielleicht geliebt werden… Stattdessen besaß er einen einzigen Lebenssinn. Und diesen hatte man ihm weggenommen. Jetzt kam es auf nichts mehr an.

Calum trat an die Kante. Der eiskalte Regen hatte seine Kleidung durchnässt und lief in Strömen an ihm herunter. Es fröstelte ihn. Er blickte hinunter auf das Dorf, wo die anderen noch sitzen und streiten würden. Jetzt wo er weg war, kamen sie mit ihren Plänen vielleicht voran. Bei dem Gedanken an seine Brüder schluchzte er. Er vermisste sie. War erfüllt von einem Verlangen, das er nicht befriedigen konnte. Es war unerträglich.
Doch heute würde er sich davon befreien.
Nur noch ein Schritt und das Elend war vorbei. Calum machte sich keine Illusionen. Seine Landsleute hassten ihn. Und die Römer, wüssten sie, was er war, würden ihn auch hassen. Und seine Familie? Sie hasste ihn ebenso, genau wie seine Mutter. Warum also sollten die Götter anders sein?
Aber vielleicht würden sie ja Gnade haben? Ihn an einen Ort bringen, an dem er die Ewigkeit in Stille und Einsamkeit verbringen konnte? Oder ihm ein neues Leben gewähren, in dem er alles besser machen konnte? Nicht als Sohn eines Monsters und einer Priesterin, sondern einer unbedeutenden Familie, weit weg? Er musste nur noch diesen Schritt machen. Nur ein paar Zentimeter…

Der Fall kam nicht. Calums Fuß wollte sich einfach nicht rühren. Und als er es merkte, stöhnte er frustriert und wütend. Er konnte es nicht! Wieso konnte er es nur nicht? Der Falke ging auf die Knie und weinte jetzt ungehemmt, weit weg von allen, welche diese Schwäche hätten bezeugen können. Schlug mit der Faust auf den nassen Stein und spürte die heißen Tränen neben dem kalten Regen auf seinen Wangen.
Einige Minuten hörte er sein Wimmern inmitten des Rauschens des Regens. Als er schließlich kraftlos innehielt, wusste er, dass er es heute nicht tun würde. Er würde zurückkehren zu Cynric und würde ihm erklären müssen, wo er schon wieder gewesen war. Und dann würde er damit fortfahren, seinen Meister zu enttäuschen, wie er alle enttäuschte.
Aber vielleicht, dachte er hoffnungsvoll als er sich erhob, um nach Iscalis zurückzukehren, vielleicht schaffte er es beim nächsten Mal…
Nach dem Gespräch mit Flavianus Pü war ich erst einmal zu der Schmiede gegangen, in der Calum arbeitete. Aber auch dort war er schon seit Wochen nicht mehr aufgekreuzt, was ein verdammt schlechtes Anzeichen war. Nach einigem hin und her durfte ich mich umsehen, ob er vielleicht etwas zurückgelassen hatte, und so wühlte ich mich durch die Reste seines Schlafplatzes. Aber außer einigen Wanzen und einer dünnen decke war hier nichts. Nichts, das auch nur den Hauch eines Anhaltspunktes hätte geben können, wo er hingegangen sein könnte. Aber wichtiger: Keine Briefe, keine Botschaften – auch keine versteckten. Ein klein wenig Hoffnung hatte ich also noch, und an die klammerte ich mcih auch.

Aber dennoch musste ich Gewissheit haben. Also hatte ich meinen Braunen gesattelt, mich gegen die winterlichen Temperaturen warm eingepackt und war dann aus der Stadt hinausgeritten. Calum mochte Klippen, weshalb mich mein erster Weg zu der nächstgelegenen Klippe auch führte. In der Nähe von Iscalis gab es einen Steilhang, von dem aus man über das Land sehen konnte. Dort gingen nur wenige hinauf, weil es da außer der Aussicht und der Gefahr des Absturzes sonst nichts gab. Kein guter Jagdplatz, keine Bodenschätze, auch kein gutes Ackerland, nur eben schroffer Stein und ein paar dornige Büsche. Aber das war die Art Platz, zu der es Calum hinzog. Mehr noch, wenn es Meeresklippen waren, aber die waren weiter weg, und, ach, keine Ahnung, ich hatte einfach das Gefühl, dass er eher diese hier nehmen würde, um nah bei dem Menschen zu sein, den er liebte. Oder so. Ich konnte es nicht logisch begründen, aber mein Herz sagte mir, dass es so stimmte.

Also hatte ich mein Pferd dorthin gelenkt, erst einmal zum Fuß der Klippe. Ich stieg ab und schaute mich um. Die Kälte hatte ihre Spuren hinterlassen, auf dem Geröll hier lag Raureif und vereinzelt auch etwas Schnee. Was ziemlich bescheiden für mich war, weil es schwer machte, etwas zu erkennen, das anders war. Und das Herz wurde mir zusätzlich schwer, weil mich dieses Geröllfeld so sehr an die Mine und Dunduvan erinnerte, dass es mir beinahe mein Herz zerriss. Calum durfte nicht tot sein und hier irgendwo liegen. Er durfte einfach nicht.

Aber trotzdem suchte ich den Fuß der Klippe ab, wendete Steine und starb mehrmals innerlich, wenn ich glaubte, ihn gefunden zu haben, aber dann war es doch nur ein Stein oder ein wenig Müll oder ein totes Reh. Aber ihn fand ich nicht.
Nachdem ich die Klippen rund um Cheddar abgesucht hatte, war der Abend hereingebrochen, und ich war im Grunde so weit wie am Anfang. Keine Spur von Calum, was ja eigentlich gut war, aber trotzdem die Frage aufwarf, was ich jetzt machen sollte. Erst einmal aber konnte ich nicht weitersuchen, da in der Dunkelheit nur wahlweise ich oder der Braune sich was brechen würden und es außerdem arschkalt war. Ich überlegte, zurück nach Iscalis zu reiten, aber im Endeffekt würde mir das ja auch nichts bringen. Ich suchte mir also eine windgeschützte Stelle, um ein Feuer anzuzünden, versorgte ordentlich mein Pferd und gab ihm auch eine Decke gegen die Kelte, ehe ich mich auch dick einmummelte und in die Flammen vor mir starrte und überlegte, wie ich jetzt weiter vorgehen sollte.

Calum hatte diesen Tribun töten wollen, aber bislang war der nicht tot. Allerdings war weder etwas über einen Angriff auf ihn bekannt geworden, noch wusste ich, wie und wo Calum das hatte tun wollen, oder ob das überhaupt irgendwas damit zu tun hatte. Aber was nutzte mir das? Ich konnte mich bei der Legion unmöglich umsehen. Ich konnte mich da noch nicht einmal einschleichen versuchen, weil ich sofort auffallen würde. Und selbst, wenn ich in das Lager reinkäme, hätte ich doch keine Ahnung, wo ich dann suchen sollte. Ich wusste nicht, wie so ein Lager von innen aussah und ob Calum auch überhaupt dort war.

“Scheiße...“ fasste ich nach einer langen Weile meine Situation höchst umfassend zusammen. Ich wusste wirklich nicht, wo ich weiter suchen sollte.
Ich schaute nach oben, wo Wolken die Sterne verdeckten und nur die Funken von meinem Feuer wie kleine Lichtblitze nach oben stiegen. Ich hatte wirklich keinen Plan, was ich tun sollte. Vielleicht…
Ich stocherte mit einem Ast ein wenig im Feuer, so dass mehr Funken nach oben stoben und es ein wenig heller aufflackerte. Wenn ich meine Gabe nutzte, um Calum zu finden, vielleicht…

Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Es war ja nicht so, als ob ich dabei irgendwas bewusst machen würde, oder als ob ich nur den Hauch einer Ahnung hätte, wie es funktionierte. Allerdings hatte es schon einmal funktioniert. Bei Niamh. Ich hatte an sie gedacht, und dann… irgendwann hatte ich von ihr geträumt, und sie in dem Haus gesehen, wo sie auch war. Also musste es irgendwie gehen. Ich hatte es schon einmal geschafft.
Ich schaute vor mich hin in die Flammen und versuchte, es irgendwie hinzukriegen. “Streng dich an, du unnützer Idiot“ murmelte ich zu mir selber und hörte darin Cathbads Echo, der mich auch immer angetrieben hatte, doch endlich mal etwas brauchbares zustande zu bringen. Und so versuchte ich es, versuchte meinen Geist zu leeren, ihn mit Bildern von Calum zu füllen, starrte in die Flammen, schloss meine Augen, starrte in den Himmel, alles. Kurz erwog ich es, nackt ums Feuer zu tanzen, wenn es denn helfen würde. Allerdings würden mir dann wohl nur mir sehr liebgewordene Einzelteile abfrieren.

Entnervt lehnte ich mich schließlich irgendwann gegen den Fels und versuchte, wenigstens ein bisschen zu dösen, bis der Morgen graute. Nicht, dass ich eine Ahnung hätte, was ich denn dann tun sollte. Aber mehr konnte ich jetzt wirklich nicht tun.
Der Nachthimmel war sternlos und dunkel. Wind trieb dunkle Wolken darüber, die unheilschwanger tief über die Ebenen zogen. Es war kalt, aber mein Fell war dick und warm und sträubte sich, wenn der Wind hineinzufahren versuchte.

Ich war hier! Vor Freude über diese Erkenntnis wäre ich beinahe aufgewacht. Ich merkte es, wie die Welt mit einem Mal Risse bekam, und zwang mich ruhig zu bleiben, bis das Beben und Bröckeln dieser Welt aufhörte und wieder ruhe herrschte. Nur hier und da fehlten kleine Stücke im Gefüge und Risse zogen sich wie gleißende Blitze durch diese Welt, aber es hielt alles zusammen. Ich war hier!

Ich hielt meine Nase in die Luft und versuchte, eine Witterung aufzunehmen. Das war nicht so einfach, denn ich war mir nicht sicher, wonach ich suchte. Ich lief also langsam los und suchte nach Spuren. An einer Stelle bog eine bekannte Spur nach links ab. Feine, kleine Mausspuren. Ein Bild war vor meinen Augen. Rotes Haar, spitzes Gesicht.
Mein! Nein, nicht mehr Mein. Niemals Mein. Weder früher, noch jetzt. Ich durfte der Spur nicht folgen, auch wenn die Versuchung sehr groß war.

Ich riss mich los und suchte weiter. Ich hörte Raben im Wind, die meinen Namen krächzten. Vor mir fiel eine dunkle Feder hinab, die ich verwundert anschaute. Eine alte Erinnerung regte sich in mir, aber ich schüttelte den Kopf. Nein, das war Vergangenheit. Es hatte keine Relevanz mehr.

Ich suchte weiter. Calum? Wie sah er hier wohl aus? Ich würde ihn erkennen, war ich mir sicher, aber wie fand ich ihn? Ich schaute mich noch etwas mehr um und lief etwas mehr in den Wald vor mir, bis ich zu einer Lichtung kam. Auf der ein Hase hockte. Und mich ansah. Ich witterte kurz, ob mir sein Geruch bekannt vorkam, aber nein. Er war irgendwie… süß und voll und anregend. Das war definitiv nicht Calum. Vorsichtig kam ich etwas näher, und der Hase sah mich an und stellte die langen Löffel auf. Sein Fell war rotbraun, die Augen wach, und irgendwie war er mir ein klein bisschen unheimlich. Trotzdem kam ich näher. “Haia“, grüßte ich gerade, als der Hase lossprang. Nicht von mir weg, nein, auf mich zu. Er machte einen Satz in meine Richtung, wendete sehr abrupt in der Lift und donnerte mir seine Läufe einmal auf die Schnauze, ehe er lachend wegflitzte.

Was zur Anderswelt…?

Ich wachte auf und war ordentlich durchgefroren. Das Feuer was ausgebrannt und auf meiner Decke lag etwas Raureif. Ich schüttelte sie und stand auf und schüttelte dann auch gleich mich noch, um warm zu werden. Was immer das für ein Traum war, ich hatte absolut keine Ahnung, was er mir sagen sollte. Ich hörte nur immer noch dieses glockenhafte Lachen und war verwirrter als jemals zuvor.